Seit über 20 Jahren dominiert Judith Butlers Theorie der Dekonstruktion der Geschlechter die feministische Debatte. Unzählige Male ist die Idee, dass das Geschlecht konstruiert sei, wiederholt worden. Vorstellungen von lebenslangen festgefügten Identitäten wurden in Frage gestellt und die Auflösung der Geschlechter wurde zur Utopie. Die Queer Theory hatte etwas Revolutionäres. Etwas Befreiendes. Alles schien veränderbar. Wenn selbst die Natur zu überwinden sei, müsste doch die Veränderung der zur Zweitnatur gewordenen gesellschaftlichen Ordnung ein Kinderspiel sein. Nach der Lektüre von Foucault und Butler schien auf einmal alles möglich. Gleichzeitig ging dies einher mit einer Kritik an der Aufklärung und erschien somit immens gesellschaftskritisch und radikal. Dieser Befreiungsgedanke war gerade in der deutschen Rezeption besonders stark durchsetzt mit karnevalesken Zügen: In ein anderes Geschlecht zu schlüpfen, schien genauso leicht wie in ein Kleidungsstück. Subversion war selten einfacher: Frauen brauchten sich nur einen Bart ankleben und Männer Lippenstift auflegen. Die Queer Theory mag in Deutschland auch deshalb so viel Erfolg gehabt haben, weil sich die Frauenbewegung hier totgelaufen hatte. Die alte Frauenbewegung hatte ihre frühere Radikalität eingebüßt: viele Frauen waren in Esoterikzirkel abgedriftet oder in Form von Gleichstellungsbeauftragten oder feministischer Sozialarbeit in die Gesellschaft integriert. Die verbliebenen autonomen Gruppen bemühten sich hauptsächlich um moralische Fragen. Biologistische Vorstellungen von Männern und Frauen wurden kaum in Frage gestellt. Anfang der 90er wurden Transfrauen noch von Parties geworfen wie heute nur noch Cis-Männer von Demos zum 8. März. Heterofrauen wurden abgewertet und Männer als das Böse schlechthin betrachtet. Es gab bestimmte Codes, wie man sich anzuziehen und welche Frisur man zu tragen hatte. Auf FrauenLesbenparties wurde nicht nur die ewig gleiche Discomusik gespielt, sondern es gab auch immer nur eine Handvoll Frauen mit langen Haaren. Schminken war verpönt und aufreizende Kleidung ebenso. Queer dagegen trat als offen, glamourös und sexy in Erscheinung.

In den letzten Jahren kann jedoch der Eindruck gewonnen werden, dass die Queerbewegung diese Freiheit wieder eingetauscht hat und alles wieder so eng und moralinsauer wird wie Anfang der 90er Jahre in jedem x-beliebigen Autonomen Zentrum. Das gesellschaftliche Engagement scheint wieder zweitrangig geworden zu sein gegenüber den jeweils individuellen Verhaltensweisen und Sprachcodes innerhalb der Szene. Die Erkenntnis, dass wir als Subjekte durch und durch gesellschaftlich bestimmt sind und deswegen unser Handeln zu reflektieren haben, führt nun wieder dazu, dass überall autoritär geschaut wird, wer sich nicht an die moralischen Kategorien und den aktuellen Sprachcode hält, die wiederum nicht immer leicht zu durchschauen sind. In der sich als »Queer« verstehenden Bewegung scheint es nur noch darum zu gehen, welche Identitäten wann und wo ausgeschlossen werden. Dass es einmal darum ging, Identitätskategorien aufzusprengen, ist in Vergessenheit geraten: Penibel wird darauf geachtet, dass jeder und jede mitgemeint ist und sprachlich repräsentiert wird. Diejenigen, die sich in den vielfältigen Codes nicht auskennen, werden mit reinem Gewissen, weil man glaubt auf der richtigen Seite zu sein, ausgeschlossen. Irgendwann ist es selbst für die eifrigsten Szenekenner schwierig geworden alles mitzubedenken und keine wütenden Reaktionen hervorzurufen, weil jemand ausgeschlossen oder verletzt werden könnte.

 

Die Dekonstruktion der Identität bei Butler

Bei Butler dagegen ging es nicht in erster Linie um eine Anerkennung der Identitäten, sondern um ihre Dekonstruktion. Festgefügte Identitäten sollten in Frage gestellt werden:

»Eine Lesbe, die absolut gegen Heterosexualität ist, könnte sich mehr in deren Macht befinden, als eine heterosexuelle oder eine bisexuelle Frau, die um ihre konstitutive Instabilität weiß oder sie lebt.« (Butler 1995: 158)

Heute würde wahrscheinlich auch Judith Butler selbst cis-sexistische Sprache vorgeworfen werden. Alle neu auftauchenden Identitäten hatte sie zumindest auch nicht auf dem Schirm. Es war auch gar nicht ihr Projekt, jeder Verhaltensweise eine eigene Identität oder jeder Zwischenform eine einheitliche Identität zuzuordnen. Vielmehr würde durch die Bildung der Identität die Kohärenz und Eindeutigkeit erst erzeugt, die Butler problematisiert. Wenn jemand sich also nicht eindeutig als Frau oder Mann fühlen würde, würde diese Person die für Butlers Identitätsbegriff konstitutive Instabilität wahrnehmen, wenn sie jedoch eine neue Identität des Dazwischenseins anstrebt, würde sie sich in Butlers Worten mehr innerhalb der Macht befinden, da dann nicht der Identitätszwang als solcher hinterfragt würde, sondern die Identitäten, die sich immer auf Ausschluss berufen, nur vervielfältigt würden. Butlers Ziel ist es zu erklären, wie der Schein einheitlicher, kohärenter Identitäten erzeugt wird. Sie beschreibt recht anschaulich, wie die für bürgerliche Subjekte notwendigen Geschlechtsidentitäten entstehen: Die Kohärenz der Geschlechtsidentität ist für eine funktionierende personale Identität wesentlich; als kohärent gelten dabei nur solche Identitäten, bei denen sich eindeutig weibliche oder männliche soziale Geschlechtsidentitäten aus dem anatomischen Geschlecht herleiten und mit einer heterosexuellen Begehrensstruktur verbunden sind. Herausfallen würden Geschlechtsidentitäten, in denen diese Kohärenz fehlt: lesbische, schwule oder transgender Identitäten etwa. Aufgebaut sei die kohärente Geschlechtsidentität auf einem binären System von weiblich und männlich, das sich durch Ausschluss konstituiere, und zwar nicht nur nach außen, sondern auch durch einen Ausgrenzungsprozess nach innen: Für eine gelungene Geschlechtsidentität müsse nicht nur das homoerotische Begehren verleugnet werden, sondern auch alle gegengeschlechtlichen Anteile, sei es im psychischen Apparat, sei es auf körperlicher Ebene

Für ihre Theorie rekurriert Butler auf die psychoanalytische Figur des Ödipuskomplexes, in der gleichgeschlechtliche Personen als mögliches Objekt der Liebe ausgeschlossen werden. Dieser Verlust wird nie betrauert und bleibt deshalb latent wirksam. Das ständige Nachdrängen gleichgeschlechtlicher Liebesbedürfnisse bedarf als Gegenbesetzung einer Verstärkung des gegengeschlechtlichen Begehrens, sowie eine auf Eindeutigkeit bedachte Darstellung der eigenen Geschlechtsidentität. Somit materialisiert sich die Geschlechtsidentität gerade immer durch ausgeschlossene Identifizierungen und durch Vereindeutigungen, die dann als naturgegeben erscheinen. Laut Butler sollten die eigene Gewordenheit und die Instabilität, die damit einhergeht, reflektiert und bewusst gemacht werden, weil gerade die Verdrängung dieser Gewordenheit zum Ausschluss führe. Es geht Butler nicht darum, dass Subjektpositionen vervielfältigt werden.

»Die Vervielfachung von Subjektpositionen auf einer pluralistischen Achse hätte die Vervielfachung ausschließender und erniedrigender Schritte zur Folge, die lediglich noch größere Fraktionierung herstellen könnte, eine verstärkte Zunahme von Differenzen ohne irgendeine Möglichkeit, zwischen ihnen zu vermitteln. Zurzeit lautet die politische Forderung an das Denken, die Wechselbeziehungen in allen Einzelheiten zu erfassen, die eine Vielfalt dynamischer und relationaler Personalitäten innerhalb des politischen Feldes verbinden, ohne sie allzu simpel zu vereinen.« (Butler 1995: 157)

Heute hat man jedoch den Eindruck, dass es genau darum geht. Jede Identitätsform muss extra benannt werden. Dass eine Identität durch Ausschluss innerer Anteile hervorgebracht würde, darf nicht mehr erwähnt werden. Dass wir alle homo- und heterosexuelle Anteile haben, die wir nur verdrängen und deshalb nicht wahrnehmen, gilt schon als Bevormundung. Genau wie die Analyse, dass Transmänner oder -frauen genauso durchdrungen sein können von gesellschaftlichen Normen wie diejenigen, die heute als Cis-Männer oder -Frauen bezeichnet werden.

Auch mit der Sprache, die doch zu einem der wesentlichen politischen Felder erhoben worden ist, verfestigt man heutzutage die Identitäten, anstatt sie zum Verschwimmen zu bringen: Beim Unterstrich bleiben die Kategorien Männer und Frauen erhalten, während alle diejenigen, die sich nicht so einordnen wollen, eine Zwischenraumidentität zugeschrieben bekommen.

Jedoch hat auch Butler ihren Teil zur heutigen Variante der Identitätspolitik beigetragen. Denn sie wollte zwar festgefügte Identitäten aufbrechen, hielt aber trotzdem beharrlich am Identitätskonzept fest:

»Nichts von alledem ist so gemeint, dass Identität geleugnet, überwunden oder ausgelöscht werden soll. Niemand kann der Forderung ›Überwinde dich selbst‹ ganz entsprechen. Die Forderung, die konstitutiven Zwänge, mit denen die kulturelle Lebenstüchtigkeit zustande gebracht wird, radikal zu überwinden, wäre eine eigene Form der Gewalt. Wenn allerdings eben diese Lebenstüchtigkeit die Folge einer Verwerfung, einer Unterordnung oder eines Ausbeutungsverhältnisses ist, dann wird die Aushandlung zunehmend komplex.« (ebd.: 161)

Und weiter:

»Wir sollten uns daran erinnern, dass Körper außerhalb der Norm noch immer Körper sind, und für sie und in ihrem Namen suchen wir ein erweiterungsfähiges und mitfühlendes Vokabular der Anerkennung. Ich halte ein solches Projekt der Anerkennung für ganz zentral für jede feministische Neukonzeption, wie die partizipatorische Basis des demokratisches Lebens verbreitert werden kann.« (ebd.: 10)

Hier wird das Resultat einer historischen Entwicklung, in der die Einzelnen gezwungen wurden, eine eindeutige Geschlechtsidentität anzunehmen, als ontologische Invariante verallgemeinert und als überhistorische Notwendigkeit begriffen, die höchstens zu flexibilisieren und zu reflektieren sei, aber nicht ganz abgeschafft werden kann. Für Butler geht das symbolische System tiefer als das soziale, das verwandtschaftliche und das politische System. Deshalb besteht ihr politisches Projekt darin, die symbolische Ordnung umzudeuten und die von der symbolischen Ordnung anerkannten Positionen auszuweiten. Heißt im Klartext: auch Lesben, Schwulen, Queers und transgender Personen die Menschenrechte und Staatsbürgerrechte zuzuerkennen. Oder noch klarer ausgedrückt: Es bedeutet nicht viel anderes, als dass auch Homosexuelle heiraten, Kinder adoptieren und die Gen- und Reproduktionsmedizin nutzen dürfen. Es geht also darum, in dieser Gesellschaft mitzumachen, und nicht diese zu überwinden. Jenseits der Verbalradikalität der heutigen Queers ist auch hier nicht mehr zu erwarten. Sie haben nur die Identitätsformen ausgeweitet und das, was an Judith Butler mal interessant und kritisch war, verworfen. Die Theorie von der Gewordenheit der Geschlechter ist damit hinfällig geworden. Es gibt nur noch als ontologisch wahrgenommene vielfältige Identitätsformen, die gelebt und anerkannt werden wollen.

 

Die Dekonstruktion des biologischen Geschlechts

Radikal und neu wirkte an Butler in den 90er Jahren die Idee, dass auch das biologische Geschlecht konstruiert sei. Während damit damals auf die Vereindeutigungen biologischer Merkmale hin zur Zweigeschlechtlichkeit verwiesen wurde, die alle Menschen betraf, wird diese Kritik heute zumeist auf die medizinische Vereindeutigung intersexueller Menschen reduziert. Mag dies auch der auffälligste Ausdruck dieser gesellschaftlichen Praxis sein, so erscheinen nun alle anderen Menschen wieder als biologisch eindeutig. Doch schon Freud wusste, dass es mit dieser Eindeutigkeit nicht weit her ist:

»Es ist unerlässlich sich klarzumachen, dass die Begriffe ›männlich‹ und ›weiblich‹, deren Inhalt der gewöhnlichen Meinung so unzweideutig erscheint, in der Wissenschaft zu den verworrensten gehören und nach mindestens drei Richtungen zu zerlegen sind: Man gebraucht männlich und weiblich bald im Sinne von Aktivität und Passivität, bald im biologischen und dann im soziologischen Sinne. […] Die dritte, soziologische Bedeutung erhält ihren Inhalt durch die Beobachtung der wirklich existierenden männlichen und weiblichen Individuen. Diese ergibt für den Menschen, dass weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird. Jede Einzelperson weist vielmehr eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf, sowohl insofern diese psychischen Charakterzüge von den biologischen abhängen als auch insoweit sie unabhängig von ihnen sind.« (Freud 2000 (1905): 123f.)

Vielfältige biologische Phänomene wie Hormone, Gene, primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale werden zu einem primären Geschlechtskörper vereindeutigt. Dies findet seine Fortsetzung in der Hervorbringung eines geschlechtsspezifischen Körpers bis in jede Faser hinein. So verstehen die meisten Mädchen unter einer guten Figur nicht nur, dass sie abgemagert sind, sondern dass sie nicht allzu viele Muskeln aufbauen, um nicht als zu männlich zu erscheinen. Männer dagegen tun im Fitnessstudio alles dafür, ein breites Kreuz und einen ›Sixpack‹ zu bekommen. Da man nämlich Penis und Vagina nur in den seltensten Fällen sieht, wird der restliche Körper mit noch größerer Energie in Form gebracht. Es ist also klar, dass es eine ganze Menge Arbeit bedeutet, bevor man eine Frau oder ein Mann ist, und dass das Mann- oder Frausein nicht der Biologie naturwüchsig entspringt, sondern Arbeit an der eigenen Natur ist. Auch wenn dies nicht unbedingt als Arbeit wahrgenommen wird.

Die einheitliche, naturgegebene Geschlechtsidentität ist nach Butler Effekt eines Diskurses, hervorgebracht durch den regulierenden Apparat der Heterosexualität. Dieser Apparat sei freilich kein Subjekt, sondern müsse als eine Art strukturierende Matrix gedacht werden, die ihre Macht durch das ständige Zitieren der Norm entfalte: Erst die ständige Wiederholung verleihe dem Zitat seine Macht und der kohärenten Geschlechtsidentität ihre Stabilität. Butler spricht hier von performativen Sprechakten. Sätze wie ›Es ist ein Mädchen‹ oder ›Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau‹ seien Formen des autoritativen Sprechens, die einen allgemeinverbindlichen Charakter annähmen. Es ist also nicht die Autorität des Richters als Vertreter des Gesetzes, die den Sprechakten ihre objektive Gültigkeit verleihe, sondern die bloße gesellschaftliche Konvention. Und dennoch sind laut Butler die Geschlechtsidentitäten nicht beliebig verhandelbar, sondern die Annahme des Geschlechts sei von vornherein unfrei.

»In dem Maße, wie das Benennen als ›Mädchen‹ transitiv ist, das heißt den Begriff initiiert, mit dem ein bestimmtes ›Zum-Mädchen-Werden‹ erzwungen wird, regiert der Begriff oder vielmehr dessen symbolische Macht die Formierung einer körperlich gesetzten Weiblichkeit, die die Norm niemals ganz erreicht. Dabei handelt es jedoch um ein ›Mädchen‹, das gezwungen wird, die Norm zu ›zitieren‹, um sich als lebensfähiges Subjekt zu qualifizieren und ein solches zu bleiben. Weiblichkeit ist deshalb nicht das Ergebnis einer Wahl, sondern das zwangsweise Zitieren einer Norm, einer Norm, deren komplizierte Geschichtlichkeit untrennbar ist von den Verhältnissen der Disziplin, der Regulierung, des Strafens.« (Butler 1995: 306)

Mit Butler können also Erkenntnisse darüber gewonnen werden, wie und auf welche Weise eindeutige Geschlechtsidentitäten hergestellt werden. Und deswegen ist sie im Gegensatz zu ihren Liebhaberinnen zu verteidigen, die von diesen Herstellungsprozessen nichts mehr wissen wollen. Butler leistet nicht weniger, aber auch nicht mehr. Von Butler darf man nicht erwarten, etwas über den Grund für diese Prozesse zu erfahren. Gebetsmühlenartig wird immer wieder hervorgebracht, dass die Geschlechtsidentität konstruiert sei und die heterosexuelle Matrix diese hervorgebracht hätte, aber auch die ewige Wiederholung ist noch keine Erklärung. Denn dass die heterosexuelle Matrix die Geschlechtsidentität hervorbringen soll, ist tautologisch. Letztendlich könnte der Satz auch so formuliert werden: Der heterosexuelle Nährboden (lat. ›matrix‹) bringt die Geschlechtsidentität hervor, die als konstitutives Moment die Heterosexualität beinhaltet. Oder noch einfacher. Die Heterosexualität bringt die Heterosexualität hervor. Dies geschieht laut Butler durch das Zitieren von Normen. Gründe dafür, dass alle ständig diese Norm zitieren, werden nicht genannt. Die Menschen wissen es nicht, aber sie tun es. Nun mag es ein Fortschritt sein, dass sie es mit Butler wissen; aber ein Rückschritt, dass nach dem ›Warum‹ nicht mehr gefragt werden darf. Die Frage nach dem ›Warum‹ berge immer die Gefahr, die große Erzählung hervorzubringen. Im Poststrukturalismus hat man gelernt, dass jede Frage nach dem Grund, nach einem Dahinter, wieder essentialisierend und naturalisierend sei. Weil die Ideologen des bürgerlichen Staates wie Hobbes und Rousseau vermeintlich einen Urzustand in der Natur gefunden haben wollten, und mit diesem die Herrschaft des Staates und sein Gewaltmonopol begründeten, und weil einige Differenzfeministinnen eine echte Natur hinter der gesellschaftlich konstruierten gefunden haben wollten, auf die man sich positiv beziehen könnte, um eine Weiblichkeit jenseits gesellschaftlicher Zwänge zu entwickeln, was jedoch nur dazu führte die alten Muster positiv zu besetzen; deswegen darf man nun gar nicht mehr nach Gründen suchen. Weil Bevölkerungspolitik in Europa anders verläuft als in Afrika und einige Feministinnen das nicht verstanden haben, darf beides nicht die selbe Ursache haben. Noch stärker: Es darf gar nicht mehr nach Ursachen geguckt werden, denn wenn man von gemeinsamen Ursachen oder einem universalistischen Konzept wie dem Patriarchat ausgehe, würde das gleichsam ein weibliches Subjekt hervorbringen, das wieder neue Ausschlüsse und neue Normen hervorbringe. Das setzt jedoch eine sehr vereinfachte Vorstellung von Ursache und Wirkung voraus, in der eine Ursache immer nur dieselbe Wirkung haben kann, was jedoch nicht zwingend gegeben ist. Wenn jedoch mit diesem Argument die Suche nach der Ursache denunziert wird und jede Totalität negiert wird, dann versperrt man sich die Sicht auf die wirklichen Zusammenhänge.

Damit, dass Butler ihren Verzicht auf die Suche nach den Ursachen als besonders progressiv darstellt, denunziert sie so alle Versuche einer materialistischen Theorie des Geschlechterverhältnisses. Schon Marx hatte es im Fall der Junghegelianer mit einer ähnlichen Denkweise zu tun. Marx hat diese Vorstellung, dass Ideen (oder wie Butler es ausdrückt: symbolische Ordnungen) verantwortlich für das Weltgeschehen seien (oder in poststrukturalistischer Sprechweise: die Welt konstruieren) in der Deutschen Ideologie am Beispiel der Junghegelianer kritisiert.( vgl. Marx; Engels 1978) Diese gingen davon aus, dass die Religion die Geißel der Menschheit und verantwortlich für alles Übel sei. Marx bestritt, dass die religiösen Vorstellungen und nicht die Produktionsverhältnisse das wären, was die Bedingungen der Menschen präge. Die in der Deutschen Ideologie entwickelte Kritik kann gut auf Judith Butler angewendet werden. Falsche Vorstellungen und Ideologien als Ursache von Macht und Herrschaft auszumachen, würde laut Marx darauf hinauslaufen, eine Veränderung des Bewusstseins anzustreben. Es würde auf die Forderung hinauslaufen, das Bestehende anders zu interpretieren. Damit würde jedoch nicht die wirkliche Welt bekämpft werden, sondern nur Phrasen. Dabei wäre es genau umgekehrt: die Vorstellungen wären eine Reflexion auf die Produktionsverhältnisse. Und bekämpft werden sollen nicht die Vorstellungen, sondern die Produktionsverhältnisse.

 

Andrea Trumann

 

*.lit

Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Berlin.

Freud, Sigmund (2000) [1905]: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie: Studienausgabe. Sexualleben, Frankfurt am Main.

Hausen, Karin (1976): Die Polarisierung der ›Geschlechtscharaktere‹. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart: 363-393.

Marx, Karl (1978): Die Deutsche Ideologie, in: MEW 3. Berlin/DDR: 13-530.

 

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