Die Debatte um Klassismus an deutschen Hochschulen und die Linke.

 

Die Beziehung der politischen Linken zur Arbeiter*innenklasse und zum Klassenkampf ist seit langem ein schwieriges Thema. Neu ist jedoch, dass diejenigen, die sich für die Klassenkämpfer*innen der Stunde halten, die Selbstorganisation von Menschen, die in letzter Zeit vor allem unter dem Stichwort „Klassismus“ an deutschen Universitäten stattfindet, entweder völlig ignorieren oder sogar aktiv bekämpfen. Dies verweist auf ein größeres Problem innerhalb der Linken.

So konnte es vergangene Woche auch Jeja Klein in einer Rezension des vor kurzem erschienen Sammelbandes „Solidarisch gegen Klassismus“ von Francis Seeck und Brigitte Theißl nicht lassen, das Standardargument gegen die Beschäftigung mit Klassismus innerhalb der Linken vorzubringen. Die gängige Argumentationsfigur ist dabei zweiteilig. Zum einen wird behauptet, dass Klassismus „nur“ als Diskriminierungsform verstanden werde und zum anderen wird in den Raum gestellt, dass mit der Fokussierung auf die subjektive Erfahrungsebene der eigentliche Klassenkampf verloren ginge. Was hier versucht wird, ist natürlich keine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Thematik, verweisen doch Theoretiker*innen wie Tanja Abou oder Andreas Kemper stets darauf, dass Klassismus unmittelbar mit der Klassen- und Verteilungsstruktur der Gesellschaft verknüpft ist und eben aufgrund dieser entsteht. Und damit das langfristige Ziel antiklassistischer Arbeit die Abschaffung der Klassengesellschaft wäre. Vielmehr wird versucht das Thema Klassismus künstlich von den linken Debatten um die Klassengesellschaft abzulösen.

Für Menschen, die aus nicht-akademischen Verhältnissen kommen, ist die Universität kein „natürlicher“ Raum, in dem man sich gerne bewegt. Hinzu kommt, dass es sich auch mit den akademisierten linken Kontexten an den Universitäten oftmals ähnlich verhält. Wenn die Nicht-Akademiker*innen dann auch noch von Klassismus sprechen, platzt den „wahren“ Klassenkämpfer*innen oftmals der Kragen und sie sprechen aus, was sie eigentlich wirklich über die Selbstreflexion der Arbeiter*innenkinder und Klassismusbetroffenen denken. „Sich nicht so in seinem eigenen Leid suhlen“, hört man da mal schnell. Menschen, von denen man sich eigentlich Solidarität erwarten würde, werten plötzlich gezielt ab. Unter anderem aufgrund solcher Erfahrungen von Betroffenen in linken Kontexten organisierte der Asta der Uni Frankfurt letztes Wochenende ein Wochenendseminar mit dem Titel „(Anti-)Klassismus und Klasse an der Hochschule“.

Abgesehen von dem mehrstündigen Austausch über Diskriminierungserfahrungen von Klassismusbetroffenen am Samstag, der von dem vor kurzem gegründeten „Autonomen Referat für antiklassistisches Empowerment“ an der Universität zu Köln angeleitet wurde, diskutierten die Teilnehmer*innen am Sonntag auch über die theoretischen Fragen des Klassenbegriffes mit Alex Demirović    und Katharina Hoppe. In seiner ausführlichen historischen Rekonstruktion des modernen Klassenbegriffes und vielen Referenzen auf die  Theorien von Rosa Luxemburg und Edward P. Thompson zeigte Alex Demirović  auf, dass das „Machen“   der Arbeiter*innenklasse schon immer mit der Solidarisierung von Intellektuellen und Einzelpersonen aus der Oberschicht einherging und die Relationen zwischen den Klassen die entscheidende historisch-materialistische Kategorie sind, durch die die Klassengesellschaft verständlich wird. Eine der Fragen, die sich daraus ergibt und der sich wie kein anderer Bourdieu widmete,  dessen soziologische Theorie Katharina Hoppe im Anschluss an Demirović  vorstellte, ist dabei, welche Rolle diejenigen, die die Arbeiterklasse von den „besseren Plätzen“ der Gesellschaft aus beobachten, im Klassenkampf überhaupt spielen können. Damit sind im Besonderen diejenigen gemeint, die aus der Oberschicht und dem Bildungsbürgertum stammen und einen Großteil derjenigen stellen, die heute in den Sozialwissenschaften und der Publizistik tätig sind. Und damit auch eine gewisse Diskursmacht aufzuweisen haben, wie über die Klassengesellschaft gesprochen wird. Es wäre wünschenswert, ging nicht zuletzt aus dem Vortrag von Alex Demirović  hervor, wenn sie an dem Transformationsprozess, den Universität und Gesellschaft so dringend benötigen, mitwirkten. Hierzu reicht es jedoch nicht nur „Das Kapital“ zu lesen und die vermeintlich objektiven Bewegungsgesetze der Klassengesellschaft auswendig zu lernen. Wie bereits 1932 der marxistische Theoretiker und Vordenker der Frankfurter Schule Karl Korsch bemerkte, ist das Verständnis des Klassenkampfes bei Karl Marx selbst, also bereits seit seiner Entstehung, dadurch gekennzeichnet, dass es auch als praktische Aktion gedacht wird. Es soll ein Reflexionsprozess und Kampf „der vereinigten wirklichen Menschen“ sein, die die revolutionäre Klasse stellen. Klassen und politische Subjekte werden eben in historischen Prozessen erzeugt und sind nicht einfach da.

In der Klassengesellschaft machen die vereinzelten Subjekte verschiedener Schichten äußerst unterschiedliche Erfahrungen, durchlaufen unterschiedliche Sozialisationsprozesse und stehen an unterschiedlichen Orten innerhalb des sozialen Raums der Gesellschaft. Die Stellung zum Produktionsprozess der gesellschaftlichen Güter, egal ob materieller oder kultureller Art, bestimmt jedoch auch heute noch im Wesentlichen die Zugangsmöglichkeiten zu Freizeit, Gesundheit und Bildung. Niemand weiß dies besser als die von Klassismus Betroffenen, deren Eltern oft 40 Stunden pro Woche die Wohnungen von Reichen putzen oder die selbst zwei Nebenjobs nachgehen, um ihr Studium zu finanzieren und zwischen diesen beiden Welten leben. Inklusive aller Verantwortungen, die diese mit sich bringen. Die Erfahrungen innerhalb einer Gesellschaft, deren Vielfalt vor allem in den Ausschlüssen, die sie erzeugt, besteht, divergieren dementsprechend zwischen den gesellschaftlichen Schichten und Gruppen. Der Erfahrungshorizont der Oberschichten qualifiziert sie damit nicht unbedingt besonders für den Klassenkampf und die Bestimmung über dessen Ausrichtung. Egal ob in der Fabrik oder an der Universität. Insofern stellt die Debatte über Klassismus, die übrigens am Wochenende nicht nur unter Betroffenen geführt wurde, sondern an der auch Menschen beteiligt waren, die sich selbstkritisch mit ihrer eigenen sozialen Stellung innerhalb der Klassengesellschaft beschäftigen wollten, vielleicht ein neues Mittel dar, um „den“ Klassenkampf wieder neu zu denken. Der Kontakt, der Konflikt, die Konfrontation und vor allem die Diskussion verschiedener Klassenpositionen, die wohl an keinem Ort so geführt werden könnte, wie dies im gewissermaßen kontingenten Milieu der Universität möglich ist, stellt vielleicht einen Ausgangspunkt für eine solche Praxis, wie sie auch Karl Marx und Karl Korsch vorschwebte, dar. Und müsste nicht jede praktische Aktion zum Umsturz der Klassenverhältnisse damit beginnen, dass sich Menschen verschiedener Klassen mit ihrer sozialen Herkunft und den damit verbundenen Herrschaftsmechanismen und Subjektivierungsformen beschäftigen?

Jedoch, und hierin besteht vermutlich auch die Ablehnung vieler marxistischer Denker*innen gegenüber dem Konzept des Klassismus, eröffnet dieses bewusst eine Betroffenenperspektive und priorisiert zurecht diejenigen, die unter der Klassenstruktur der Gesellschaft alltäglich leiden. Damit geht jedoch, und dies ist die praktische Konsequenz des Klassismusbegriffes, eine Priorisierung der Betroffenen in der Beurteilung über den Reflexionsprozess der Klassenpositionen und der klassistischen Verhaltensmuster einher. Hierdurch geraten klassenspezifische Distinktionsmerkmale der bildungsbürgerlichen Schichten, wie die symbolische Benutzung marxistischen und vermeintlich klassenkämpferischen Vokabulars in Gefahr. Wenn die Diktatur des Proletariats plötzlich nicht mehr eine visionäre Zukunftsvorstellung bleibt, mit der man sich vor den Kommiliton*innen als klassenbewusst brüsten kann, sondern die Betroffenen bestimmen möchten wo es lang geht, zeigen sich dann die bereits oben beschriebenen reaktionären Verhaltensweisen gegenüber denjenigen, die wirklich unter der Klassenstruktur der Gesellschaft leiden und sich auf den Begriff des Klassismus berufen.  

Wenn Jeja Klein also in dem Artikel schreibt, dass ein Antidiskriminierungsbüro den Klassenkampf nicht ersetzen wird, bemerkt man, dass Klein vieles an den Debatten um Klassismus nicht verstanden und zudem eine illusorisch-bürgerliche Vorstellung von der Institution Universität hat. Denn der hierarchisch organisierte Raum Universität in seiner aktuellen Form lässt die Diskussionen über Klasse und Klassismus überhaupt nicht zu. Weder im inhaltlichen Sinne einer Auseinandersetzung mit der Klassenstruktur und den damit einhergehenden Subjektivierungsformen noch im praktisch-organisatorischen Sinne des Erfahrungsaustausches der von Klassismus Betroffenen. Die Universität ist kein neutraler Raum, sondern vielmehr ein Schlachtfeld von Kämpfen um materielle Güter, z.B. Studien- und Forschungsfinanzierungen, und um den Zugang zu Diskursen, sowohl hochschulpolitischen als auch wissenschaftlichen, und muss deshalb notwendigerweise als Teil des Klassenkampfes gedacht werden. Der Schluss, dass das Gleichstellungsbüro am Klassenkampf nichts ändern würde ist dabei eine Verkennung von dessen materiellem Gehalt. Nicht, dass es die Hoffnung darauf gäbe, dadurch die Klassenstruktur der Universität wirklich abzuschaffen. Jedoch macht es eben für arme und von Klassismus betroffene Studierende einen Unterschied, ob sie beispielsweise Vergünstigungen beim Mensaessen bekommen, mögen diese für ein Bildungsbürgerkind auch lächerlich gering wirken, und dadurch am Ende des Monats vielleicht auch noch einmal ins Kino gehen können oder eben nicht.   Darüber hinaus stellt ein Gleichstellungbüro jedoch auch eine Anlaufstelle dar und öffnet im besten Fall einen Raum, in dem sich Menschen, die von den universitären Strukturen systematisch diskriminiert werden und dabei auch noch kaum ökonomisches und kulturelles Kapital zur Verfügung haben, gemeinsam organisieren können. Einen Raum, um sich über klassistische Erfahrungen und den oft auch leidvollen Prozess des Studierens, der mit vielen Unsicherheiten verbunden ist, austauschen zu können.

Die Welt, in der wir leben, ist schlecht genug. Sich mit dem alltäglichen Leid derjenigen zu befassen, die unter der Klassenstruktur leiden, diese und deren Interessen an der Universität und anderswo ernst zu nehmen, war und ist die Voraussetzung jeglichen Klassenkampfes und wäre die Aufgabe linker Politik. Ob die Linke diese Aufgabe annehmen kann und wieder zur Klassenbewegung wird, ist eine der zentralen Fragen, die sie für sich beantworten muss. Der Ausgang dieser Frage bedeutet für die von Klassismus Betroffenen vielleicht mehr, als die Linke aktuell selbst zu erahnen weiß. Die Selbstorganisation von Betroffenen unter dem Label des Klassismus ist deshalb vor allem ein Hoffnungsfunke. Sie zeigt, dass die Klassenbewegung zur Not auch ohne das bildungsbürgerliche linke universitäre Milieu fortschreiten kann und wird.

 

Von Florian Meier