„Es gab nie eine Stunde Null! Alte Nazis bauten die Polizeibehörden, das Militär und viele Behörden in der Bundesrepublik auf. Diese Kontinuitäten und der aggressive Antikommunismus sind auch Ursachen für die heute fast täglich bekanntwerdenden rassistischen und antisemitischen Vorfälle in den Sicherheitsbehörden. Es ist beschämend, dass heute noch neofaschistische Netzwerke in diesen Strukturen existieren können. Um diesen Bruch mit den NS-Kontinuitäten auszudrücken, brauchen wir endlich einen Feiertag am 8. Mai!“ (Esther Bejarano am 03. Mai 2021, online abrufbar unter: https://www.auschwitz-komitee.de/5249/esther-bejarano-wir-sind-da-meine-befreiung-im-mai-1945-und-meine-hoffnungen/#)

Esther Bejarano, jüdische Shoah-Überlebende, Musikerin und kraftvolle Stimme im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Faschismus ist heute verstorben. Mit ihr ist eine starke, engagierte Antifaschistin von uns gegangen. Ihr Leben widmete sie der antifaschistischen Aufklärungsarbeit sowie der Musik. Sie überlebte das KZ Auschwitz, indem sie Teil des Mädchenorchesters dort wurde.

Esther Bejarano (geb. Loewy) kam im Dezember 1924 in Saarlouis zur Welt. 1934 mehrten sich im Saarland antisemitische Vorfälle, die jüdische Gemeinde Saarbrückens wurde zunehmend kleiner, sodass sich Esthers Familie für einen Umzug nach Ulm entschied. 1937 wanderten Esthers beide älteren Geschwister aus: ihr Bruder in die USA, ihre Schwester nach Palästina. Somit war Esther das einzige Kind, das weiter mit den Eltern wohnte. Im Zuge der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde Esthers Vater verhaftet und drei Tage darauf aus dem Gefängnis entlassen. Esther kam kurz danach nach Berlin, wo sie ein zionistisches Vorbereitungslager der Jewish Agency for Israel, welches für die Auswanderung nach Palästina vorbereitete, besuchte. Durch den Kriegsbeginn wurde ihre Ausreise verhindert. Ihre Eltern wurden im November 1941 in Kowno (Litauen) von den Nationalsozialist*innen erschossen. Esthers Schwester wurde im Dezember 1942 in Auschwitz ermordet. Nachdem Esther in ein Sammellager in der Großen Hamburger Straße in Berlin kam, wurde sie am 20. April 1943 nach Auschwitz deportiert.

In Auschwitz wurde sie als Akkordeonspielerin Teil des dortigen Mädchenorchesters. Dieses musste den täglichen Marsch der arbeitenden Häftlinge begleiten. Nach einem halben Jahr im Orchester wurde sie gemeinsam mit 70 weiteren Frauen im November 1943 in das KZ Ravensbrück verlegt. Dort wurde sie als Zwangsarbeiterin im Siemenslager Ravensbrück eingesetzt.

Mit dem Anrücken der Alliierten wird Esther Bejarano von den Nationalsozialist*innen zu einem der Todesmärsche verpflichtet. Von Ravensbrück führte der Weg zu dem KZ-Außenlager Malchow und anschließend in weitere Entfernung von der Front. Mit Freundinnen gelang ihr auf dem Weg die Flucht. Am 3. Mai 1945 erlebte sie in Lübz, einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, die Befreiung durch amerikanische und sowjetische Truppen. Von diesem Tag erzählt sie später häufig in ihren Reden:

„Heute vor 76 Jahren bin ich in dem kleinen mecklenburgischen Städtchen Lübz befreit worden, befreit von den amerikanischen und den sowjetischen Truppen. Ihr kennt meine Geschichte: Auf dem Marktplatz haben die Soldaten ein Hitlerbild verbrannt, alle haben gefeiert, lagen sich in den Armen – und ich habe dazu Akkordeon gespielt. Mein größter Wunsch für den heutigen Tag war, noch einmal zu erleben, wie Amerikaner und Russen sich wie damals in Lübz umarmen und küssen und gemeinsam das Ende des Krieges feiern! Den Frieden feiern!“ (Esther Bejarano am 03. Mai 2021, online abrufbar unter: https://www.auschwitz-komitee.de/5249/esther-bejarano-wir-sind-da-meine-befreiung-im-mai-1945-und-meine-hoffnungen/#)

Nachdem Esther Bejarano erfuhr, dass ihre Eltern und ihre Schwester in der Shoah ermordet wurden, entschloss sie sich zur Ausreise nach Palästina. 1948 wurde sie für das israelische Militär im Zuge des Unabhängigkeitskrieges verpflichtet. Zudem war sie dort im Arbeiter*innenchor aktiv, wo sie ihren Mann Nissim Bejarano kennenlernte. Im Mai 1951 kam Esthers Tochter Edna, im Dezember 1952 ihr Sohn Joram zur Welt.

Am 01. Juni 1960 kehrte Esther mit ihrer Familie nach Deutschland zurück. In Hamburg eröffnete sie eine Boutique, während ihr Mann als Feinmechaniker arbeitete. In den Jahren, in denen sie die Boutique führte, trat ihr politisches Bewusstsein zunehmend in den Vordergrund. In der Nähe ihres Geschäftes wird in den 1970er Jahren ein NPD-Infostand aufgebaut, wobei sie beobachtete, wie die Polizei gewaltsam gegen Protestierende vorging, die sich gegen die Nazis auflehnten. Rückblickend sagte sie, dass sie von dort an wusste, dass sie antifaschistische Arbeit machen musste. Sie begann ihre eigene Geschichte zu erforschen, ihr Leben zu verschriftlichen und zu dokumentieren. Zudem schloss sie sich der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes an, wo sie 2008 Ehrenvorsitzende wurde. Im Jahre 1986 gründete Bejarano das Auschwitz-Komitee für die Bundesrepublik. Dieses organisierte Zeitzeug*innengespräche, Gedenkfahrten in ehemalige Konzentrationslager und Veranstaltungen gegen das Vergessen. Sie erzählte in Schulen von ihrer Zeit in Auschwitz, beteiligte sich bei zahlreichen Kundgebungen und Veranstaltungen, sang mit der Band Microphone Mafia auf Konzerten gegen rechts. Kurz vor ihrem 95. Geburtstag wandte sie sich an Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) bezüglich der Aberkennung der Gemeinnützigkeit durch einen „Linksextremismus“-Vorwurf an die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA): "Das Haus brennt - und Sie sperren die Feuerwehr aus!".

Auch in hohem Alter engagierte sich Bejarano weiter im Zuge antifaschistischer Veranstaltungen, Projekte und Gedenktage. 2013 erschien ihre Biografie Erinnerungen. Vom Mädchenorchester in Auschwitz zur Rap-Band gegen rechts im Hamburger Laika-Verlag.

Mit Esther Bejarano ist eine kraftvolle Stimme im Kampf gegen Antisemitismus, Faschismus und Rassismus von uns gegangen. Wir werden sie niemals vergessen. Ruhe in Frieden, Esther.