Eine Leerstelle, die nicht zu schließen ist – Die Befragung von Irmgard Braun-Lübcke

Was es bedeutet, Tag für Tag den mutmaßlichen Mördern und Angreifern ins Gesicht zu blicken, schildert Irmgard Braun-Lübcke in ihrer Aussage am 30. Prozesstag vor Gericht. Am 16. November tritt sie in den Zeug_innenstand und fordert umfassende Aufklärung. Die pensionierte Lehrerin berichtet von der Tatnacht, als ihr Sohn sie nachts geweckt und sie sofort gewusst habe, dass etwas passiert sei. Sie sei sofort auf die Terrasse rausgegangen. Doch, dass es sich um eine Gewalttat oder Mord handeln könnte, kann sie sich in diesem Moment schlicht nicht vorstellen. Beim Verrücken der Möbel auf der Terrasse habe sie sich noch über die Blutflecken an der Hauswand gewundert, dem aber keine größere Beachtung geschenkt. Nach der Einlieferung Walter Lübckes ins Krankenhaus wurde sie dort in einen separaten Raum geführt. In diesem Moment ahnte sie es bereits. Als sie im Krankenhaus nachfragte, ob ihr Mann eine Kopfverletzung habe oder warum Blut an der Wand gewesen sei, habe der Arzt nochmal nachgeschaut. Erst dann sei der Kopf geröntgt worden und das Projektil gefunden.

Welche Leerstelle der Mord in das Leben der Betroffenen gewaltsam gerissen hat, wird an diesem Prozesstag nur erahnbar. Er hinterlässt eine Lücke, die nicht mehr zu schließen ist: "Das Haus ist nicht mehr das Haus. Das Leben ist nicht mehr das Leben." sagt Irmgard Braun-Lübcke. Sie schilderte, dass Walter Lübcke ein lebensfroher Mensch war, der sich besonders auf die Zeit in der Pension gefreut habe. Diese wollte er mit seinen Söhnen und seinen Enkelkindern verbringen. Ehrenamtlich habe er sich engagieren wollen, sie hatten gemeinsame Pläne, wollten reisen. Er habe immer so viel gearbeitet. Sie schildert, wie schwer es für sie, für die Familie sei, „hier vor Ort“, im Gericht in Frankfurt, zu sein. Es sei schrecklich, dass Ernst zwar alle Fragen beantworten wolle, aber sie jetzt doch vor einem Puzzle mit schwarzen Flecken stünde. Das Benehmen und Schweigen H.s sei sehr verletzend für sie. Sie frage sich: Hat Walter Lübcke H. noch ins Gesicht gesehen, hat er Ernst gesehen? Warum konnte er sich nicht verteidigen, er war doch so ein großer, starker Mann. Habe er noch mit seinem Mörder oder seinen Mördern gesprochen? „Wir brauchen diese Antworten. Wir brauchen das.“ Immer noch würde sie umtreiben, wie ihr Ehemann seine letzten Minuten verbracht habe. Sie beschließt ihre Aussage mit einem direkten Appell an Ernst:

„Sagen Sie uns, was wirklich passiert ist. Mein Mann, der Papa, kommt nicht mehr zurück. Der Opa kommt nicht mehr zurück. Setzen Sie sich auf meinen Stuhl. Helfen Sie wenigstens hier. Beantworten Sie die Fragen!“

Sie fordert auch von H. sein Schweigen zu brechen und wendet sich direkt an ihn: „Aus Worten werden Taten.“ Das höre man immer wieder und es stimme auch; auch deswegen sei H. mitverantwortlich. Das werfe sie ihm vor, nichts sei wie zuvor. Der vorsitzende Richter Sagebiel ermahnt sie danach, dass dies in der Prozessordnung nicht vorgesehen sei, unterbricht sie allerdings nicht.

Anders agierte der Strafsenat bei der Aussage von Ahmed I. am 25. Verhandlungstag (die diskus berichtete). Immer wieder war seine Aussage von Unterbrechungen und Nachfragen geprägt, der Senat wirkte ungeduldig ob des energiezehrenden Übersetzungsprozesses. Rechtsanwalt Hoffman unterstützte seinen Mandanten, indem er sich neben ihn während der Zeugenaussage setzte, die nicht von I.s Sitzplatz gegenüber der Angeklagten geschah, sondern auf dem Stuhl für aussagende Zeug_innen und Sachverständige, positioniert gegenüber des Senats. Auch Ahmed I. spricht in seiner Aussage über die gewaltsame Leerstelle, die der Angriff hinterlässt: „Ich habe gelebt bis 2016. Nicht länger.“ An diesen Tagen wird allen Prozessteilnehmer_innen und Beobachter_innen schmerzlich deutlich, was hier verhandelt wird. Auch deswegen betont die Familie Lübcke und I. immer wieder, dass es eben nicht nur um das Urteil geht – sondern um die vollständige Aufklärung der Taten.

 

Indiz, Hinweis, Beweis – zum Angriff auf Ahmed I.

Zum Beginn der Hauptverhandlung am 22. Verhandlungstag, dem 20. Oktober, erklärten sowohl die Bundesanwaltschaft als auch die Nebenklage zur Aussage des DNA-Sachkundigen Schneider am vorangegangenen Prozesstag: Es habe sich gezeigt, dass die am mutmaßlichen Tatmesser zum rassistischen Angriff auf Ahmed I. gefundenen DNA-Reste kein quantitativer sondern ein qualitativer Hinweis seien. Eine eineindeutige Identifizierung zwischen DNA und Nebenkläger I. sei zwar nicht möglich, jedoch bildeten mehrere qualitative Eigenschaften der DNA-Spur das Indiz, diese stammten von I. In dieser Hinsicht reiht sich die DNA-Spurin eine Kette weiterer Indizien ein, die zur Anklage Ernsts geführt haben, u.a. dessen Aussage in seinem ersten Geständnis. In diesem, befragt nach Schlüsselerlebnissen, die zu seiner Gewalttat beitrugen, nannte er auch die Silvesternacht 2016 in Köln. Nach der Berichterstattung um die Übergriffe von Geflüchteten sei er derart wütend gewesen, dass er am 6. Januar 2016 durch die Straßen seiner Wohngegend gefahren sei und Wahlplakate zerstört habe. Der 6. Januar ist das Datum des Angriffs auf Ahmed I. Die Geflüchtetenunterkunft in Lohfelden, in der I. damals wohnte, befand sich in der Nähe zu Ernsts Haus und der täglicher Arbeitsweg des Angeklagten auf dem Fahrrad führte an ihr vorbei. Ahmed I. hatte bei seinen Aussagen bei der Polizei 2016 angegeben einen Fahrradfahrer zum Tatzeitpunkt gesehen zu haben. Der sachverständige medizinische Gutachter Dr. Dettmeyer hat den medizinischen Befund I.s ausgewertet und bestätigte zudem, dass die Wunde sehr tief gewesen sei. Daraus schließt er, dass der Angreifer mit großer Kraft und Dynamik zugestochen habe. Das passe zu einem Angreifer auf einem Fahrrad. Außerdem bestätigt er, dass kein Zweifel bestehe, dass das bei Ernst gefundene Klappmesser eine mögliche Tatwaffe sei. Hätte der Angreifer I. auch nur um 1 cm neben der Einstichstelle getroffen, sei die Verwundung lebensbedrohlich gewesen und hätte innerhalb kurzer Zeit zum Tod von I. geführt.

Das Indiz des DNA-Hinweises versucht die Verteidigung Ernsts zu entkräften: Nachdem ein Kaufbeleg vom 30. Januar 2016  aufgetaucht ist, hat die Verteidigung Ernsts den ehemaligen Besitzer des Ladens, S., sowie zwei weitere Familienmitglieder, die regelmäßig in diesem Schneidwarengeschäft verkauften, am 26. November in den Zeugenstand berufen. Sie bringen den Durchschlag der Quittung mit, allerdings ist auf dieser nur der Kaufpreis eines Messers der Serie MP9 vermerkt. Aufschluss darüber, ob das mutmaßliche Tatmesser eindeutig dazu passt, gibt sie jedoch nicht. Und: An Stephan Ernst als Kunden des Geschäftes erinnert sich keine_r der Zeug_innen.

 

Gedächtnislücken – Die Befragung Alexander S.‘

Auf der Aussage von Alexander S. am 23. Verhandlungstag, dem 22. Oktober lastete ein hoher Erwartungsdruck. Bisher waren aus dem persönlichen Umfeld von H. und Ernst vor allem Arbeitskolleg_innen geladen, die jede Einbindung in rechte Netzwerke zwar abstritten, durch ihre Aussagen jedoch immer wieder die rechten und rassistischen Einstellungen dieses bürgerlichen Umfelds bestätigten.http://lotta-magazin.de/ausgabe/80/der-kleinb-rger Alexander S. jedoch ist ein guter Freund von Markus H. und es gibt gemeinsame Bilder auf rechten Demonstrationen. Die neonazistischen Aktivitäten von S. im Schwalm-Eder-Kreis sind gut dokumentiert. Doch war S. Befragung von vielen Lücken und Leerstellen seiner Erinnerung gekennzeichnet, er gab immer wieder an, sich nicht erinnern zu können. Wie unglaubwürdig die Einlassung war, wird offensichtlich: Nach eigenen Angaben konnte S. sich kaum mehr an Inhalte von Treffen und Gesprächen zwischen ihm, H. oder Ernst erinnern. Felsenfest überzeugt war er allerdings, dass deren Inhalt nicht politisch gewesen sei. S. gab an, dass er zwar von 2008 bis 2014 sehr aktiv in der rechten Szene gewesen sei, sich dann aber davon gelöst habe und später nur noch ausnahmsweise die eine oder andere AfD-Veranstaltung besucht habe. Das Gericht befragte S. sehr oberflächlich, selten wurde er mit der Unglaubwürdigkeit seines Gedächtnisschwunds konfrontiert oder durch belegbare Fakten zu Aussagen gezwungen.

Besonders unglaubwürdig ist Alexander S. Standardantwort „Ich weiß nicht mehr“. durch die engere Freundschaft zu Markus H. –  beide fuhren mindestens einmal gemeinsam in den Urlaub. Neben Markus H. war S. die einzige Person, mit der Ernst über den besonders verschlüsselten Nachrichtendienst Threema chattete. Warum auch S. seinen Chatverlauf nach dem Mord an Walter Lübcke löschte, konnte dieser vor Gericht nicht hinreichend erklären.

 

Wie eine andere Fragetechnik aussehen kann, führt Nebenklagevertreter Hoffmann allen Prozessbeteiligten vor Augen. Auf die Frage nach S.‘ Aktivität auf einer rechten Demonstration 2008 in Fulda, von denen Fotos existieren, auf denen er mit Kamera abgelichtet ist, gibt S. zu, Demonstrationen gefilmt zu haben. Allerdings könne er sich auch nach mehrmaligem Insistieren Hoffmanns nicht mehr an den Namen des Youtubekanals erinnern, auf dem er diese hochgeladen habe. Seine Teilnahme bei einer Jagd auf Antifaschist_innen in Todenhausen, für welche er auch gerichtlich belangt wurde, verharmlost S. in dieser Befragung. Auf die Frage, ob auf seinem Rechner Anleitungen zum Bombenbau gewesen seien und ob er diese von H. oder Ernst erhalten habe, verweigert S. die Aussage, um sich nicht selbst zu belasten. Es sind die spannendsten 20 Minuten einer Befragung, die eindrücklich zeigt: Wenn man nicht die richtigen Fragen stellt, bekommt man auch nichts aus Neonazis raus. Gegen den vermeintlichen Gedächtnisschwund hilft nur Wissen und Dokumentation über Akteur_innen, Strukturen und Netzwerke.

 

Dieses Wissen fehlt an vielen Stellen bei den ermittelnden und aufklärenden Behörden. Die Bereitschaft zusätzliche Perspektiven und Wissen über Sachverständige hinzuzuziehen ist beim Frankfurter Oberlandesgericht nicht erkennbar. Dies ist ebenfalls eine der größten Leerstellen, die sich bis jetzt im Prozessgeschehen abbilden: Immer wieder sagen ermittelnde Polizist_innen aus, die bei der Durchsicht der Daten auf den Computern der Angeklagten sich das Wissen über rechte Symbole und Codes, Rechtsrock etc. erst googlen mussten. Die Leerstelle des Wissens über Rassismus und rechte Ideologie wird umso problematischer, wenn deren Grat und Anteil an Straftaten beurteilt werden muss. Es bleiben erhebliche Zweifel, wie der Frankfurter Strafsenat dies eigentlich bewerkstelligen will, wenn er in den Befragungen bis jetzt größtenteils oberflächlich „fremdenfeindliche“ Einstellungen gegen „Ausländer“ abfragt und kein Sachverständiger über Strategien und Ideologie der sogenannten Neuen Rechten aussagt. Die tatermöglichenden Strukturen der scheinbar unpolitischen bürgerlichen Mitte, in welcher sich Stephan Ernst seit spätestens 2012 bewegte, sind im Prozesssaal bis jetzt noch nicht genauer thematisiert worden.

 

Im Fahrwasser rassistischer Stimmungsmache – Die Strategie der Verteidigung Ernst

Hat die Verteidigung von Stephan Ernst schon in der Befragung von Ahmed I. als Zeugen durchscheinen lassen, auf welche Prozessstrategie sie sich festgelegt hat, wird dies am 26. Prozesstag, dem 3. November, in ihrer Erklärung zur Aussage I.s explizit. Rechtsanwalt Kaplan erklärt in dieser, dass der Zeuge I. nicht glaubwürdig sei. Dies belegt er weniger mit dessen Aussagen vor Gericht, sondern bezieht sich vor allem auf Polizeiprotokolle und Vermerke aus den Ermittlungen 2016. Dass diese von rassistischen Bildern beeinflusst sind, wird an verschiedenen Details deutlich. So ist im Protokoll der Vernehmung am 7. Januar 2016 vom polizeilichen Ermittler P. vermerkt, dass Ahmed I. seine persönlichen Daten von einem im Krankenhaus angebrachten Bändchen abgelesen habe und in einem regelrechten Redeschwall von dem Anschlag berichtet. Der gleiche Polizist P. bezeichnete I. in einem späteren Vermerk ausschließlich als „der Ahmed“. Diesen Vermerk schrieb P. zu zwei Ermittlungen, die Ahmed I. nach dem tätlichen Angriff angezeigt hatte. Einmal ging es um die Beobachtung einer Personengruppe, die möglicherweise seine Unterkunft observierten. Das andere Mal um eine Hakenkreuzschmiererei auf der Straße in unmittelbarer Nähe seiner Wohnung. Im Vermerk zu den Befragungen um die Vorfälle kommt P. schließlich zu dem Schluss, der Nebenkläger habe sich diese Fälle nur ausgedacht, um von Kassel nach Frankfurt zu ziehen. In die Befragungen der Zeug_innen der Ereignisse war P. nicht involviert, die Existenz der Hakenkreuzschmiererei lässt sich dank Fotografien aber nur schwer leugnen. Sind die Beobachtungen über bspw. den Redeschwall I.s in ihrer Relevanz schon im Protokoll zweifelhaft, boten sie nun den Verteidigern von Ernst einen Anlass die Identität und Herkunft des  Nebenklägers I. anzuzweifeln. Offensichtlich wird dabei, dass sie vor allem das Narrativ verfolgen, Ahmed I. würde in irgendeiner Art und Weise den Angriff als rassistisch und politisch motivierte Tat ausschlachten, um sich davon persönliche Vorteile und einen Aufenthaltsstatus erhoffen. Diese Täter-Opfer-Umkehr ist schockierend mitzubekommen, zudem erklärte Rechtsanwalt Hoffmann schon im Anschluss an die Befragung I.s am 29. Oktober, dass das Asylrecht einen solchen Weg der Aufenthaltsstatusanerkennung gar nicht vorsehe. Bundesanwalt Killmer betonte, dass Ernst nicht aufgrund der Aussage von I. verdächtigt würde, sondern wegen anderer Indizien. Diese Gegenargumente hält die Verteidiger Ernsts allerdings nicht davon ab, in den an die Aussage von I. anschließenden Tagen, eine Reihe Beweisanträge bspw. zur Befragung des Polizisten P.s zu stellen. Außerdem stellt die Verteidigung Ernst Anträge, ehemalige Mitbewohner_innen vor Gericht zu befragen, die I. als „Lügner“ bezeichnet hätten. Ihre Strategie die Glaubwürdigkeit von I. zu hinterfragen, schreckt ganz offensichtlich nicht davor zurück, I. persönlich zu diskreditieren und zu diffamieren. Eine nur schwer auszuhaltende Situation stellt sich immer dann ein, wenn Rechtsanwalt Kaplan mit der Befragung beginnt und auf zähe und zermürbende Art versucht stichfeste Antworten zu bekommen. Diese besonders kleinteilige Fragetechnik führt dazu, dass oftmals Sachen bis ins kleinste Detail zerlegt und ständig wiederholt werden, bis die von ihnen gestreuten Suggestionen scheinbar an Relevanz gewinnen.

Das Gericht hat vielen dieser Beweisanträge zugestimmt, wahrscheinlich um sich keine Befangenheit vorwerfen zu lassen. Während am 32. und 33. Prozesstag einige der Zeug_innen des Angriffs auf I. am 6. Januar sprechen wird allerdings klar: Neues zum Tatkomplex um den Angriff auf I. lässt sich nicht ermitteln. Für viele der Zeug_innen ist schlicht das Geschehen so lange her, dass von der Erinnerung nur noch unscharfe, simplifizierte Bilder übrig sind. Das bringt sie immer wieder dazu das polizeilich protokollierte zu bestätigen. Teilweise geht die Strategie der Verteidigung Ernsts auch nicht auf. So berichtet beispielsweise die ehemalige Dolmetscherin R. der Vernehmungen I.s vom Januar 2016, der Nebenkläger I. habe müde gewirkt und wurde erst durch ihre Vernehmung aufgeweckt. Davor ist bereits in der Befragung des vernehmenden Polizisten P. rausgekommen, dass dieser sich gar nicht erkundigt habe, ob I. sich vernehmungsfähig fühle. I. wurde in der Nacht notoperiert und bekam Schmerzmittel, die Vernehmung am folgenden Tag dauerte 5 Stunden. Worte des polizeilichen Protokolls auf eine Waagschale zu legen, wenn klar ist, dass I, unausgeschlafen und war und die Befragung von einer nicht-vereidigten Fremdsprachensekräterin übersetzt wurde, ist deswegen absurd. Eine Tatsache freilich, die die Verteidigung vehement negiert, die stattdessen weiterhin ihre Beweisanträge im Fahrwasser rassistischer Stimmungsmache und Hetze gegen Geflüchtete stellt.https://twitter.com/RA_Elberling/status/1323654369259245569

 

Voll Schuldfähig, Hang zur Gewalt, Sicherheitsverwahrung – Das Psychologische Gutachten zu Stephan Ernst

Am 19. November, dem 31. Verhandlungstag, sagt der psychiatrische Gutachter Dr. Leygraf aus. Leygraf, Arzt der Psychiatrie und Neurologie, wurde schon früh zum Prozessgeschehen hinzugezogen. Er explorierte Ernst im Januar an zwei Terminen, sie sprachen ca. 9 Stunden miteinander. Der Sachverständige hatte außerdem Zugang zu den Prozessakten, Notizen der ehemaligen Therapeutin Ernsts und beobachtete beinahe den gesamten Prozess. Leygraf berichtet von seinem Eindruck, dass Ernst an keiner Stelle während der neunstündigen Exploration ein offenes Gespräch führte. Er beschreibt den Angeklagten als kontrolliert, oftmals nutze er sprachliche Floskeln wie „irgendwie“, „wie soll ich das beschreiben“ oder „ich sag jetzt mal“, um mit möglichst vielen Worten möglichst wenig konkretes auszudrücken. Zwischen den Fragen und Antworten lagen oft längere Pausen und Ernst habe meist sehr berechnend in seiner Antwort gewirkt. Der Psychiater stellt aber schizoide Persönlichkeitszüge fest. Der Angeklagte agiere nach außen sehr kontrolliert, während in seinem Inneren eine große Affiziertheit entstehe. Diese haben aber keinen Einfluss auf die Beurteilung der Schuldfähigkeit.

Leygraf hinterfragt das Narrativ von Ernsts Entradikalisierung mit dem Hinweis, dass diese auffällig kurz gewesen sei und zeigt auf, dass auch der Wechsel in eine bürgerliche Lebensweise seine politischen und menschenfeindlichen Einstellungen nicht verändert haben. Dies führt er u.a. darauf zurück, dass diese Einstellungen bei Ernst verhaltensprägend seien und deswegen auf grundlegende Wert- und Normvorstellungen rekurrierten. Ob die von Ernst bekundete Bereitschaft an einem Aussteigerprogramm teilzunehmen ein Hinweis auf Veränderung dieser Einstellungen gebe, vermag der Psychiater nicht zu beurteilen, dies könne man mit Gewissheit sowieso erst nach einigem Zeitverlauf feststellen. Leygraf stellt im Verhalten des Angeklagten Ernst fest, dass affektives, emotionales Reagieren oftmals auf Zuruf geschehe. Offenbar wolle er seinem Geständnis eine „affektive Note“ verleihen, auf ihn habe es gewirkt als schniefe der Angeklagte und führe ein Taschentuch zum Gesicht, allerdings habe er keine tatsächlichen Tränen erkennen können. Auch dies spreche dafür, dass Ernst den Mord an Walter Lübcke aus Überzeugung begangen habe, ein „grundlegender und stabiler Wandel“ sei nicht zu erkennen. Auch bei vergangenen Taten, wie beim Angriff auf einen Imam in Wiesbaden 1992, habe Ernst impulshaft gehandelt, solle ihm der Angriff auf Ahmed I. nachgewiesen werden, bestätige dies wiederum seine unkontrollierte Handlungsweise. Leygraf attestiert Ernst einen „Hang zur Begehung schwerer Straftaten“ und sieht keine ausreichenden Anzeichen eines Verhaltenswandels. Deswegen sieht der Gutachter die psychiatrische Voraussetzung für Sicherheitsverwahrung gegeben.

Auffällig erscheint, dass Leygraf in seinem Bericht an keiner Stelle von Rassismus spricht, sondern das problematische Narrativ der „ausländerfeindlichen“ Einstellungen perpetuiert. Auch hier zeigt sich die Leerstelle des Wissens um Rassismus.

 

Prozess während einer globalen Pandemie

Im Gerichtssaal befinden sich zwischen den einzelnen Prozessteilnehmer_innen Plexiglasabtrennungen. Deren Sinnhaftigkeit wird untergraben durch die notwendige Unterredung der verschiedenen Parteien zwischendrin, die nebeneinander Sitzenden stecken hinter diesen Plexiglaswänden immer wieder die Köpfe zusammen. Zugleich trägt im Saal niemand eine Mund-Nasen-Bedeckung, zu wichtig sei die Beobachtbarkeit der Mimik. Trotz der Verschärfung der Maßnahmen, hat sich daran nichts geändert. Fast scheint es so, als gäbe es das Virus nur außerhalb des Oberlandesgerichtes. Am 12. November bricht jedoch die äußere Realität in das Gericht, als der Senat nach einer Beratungspause wieder in den Saal zurückkommt und dessen vorzeitige Unterbrechung ankündigt. Ein Senatsmitglied sei eben kontaktiert worden, dass ein Verdacht auf Infizierung bestehe. Der 29. Verhandlungstag wurde deswegen außerplanmäßig beendet.

Von den geladenen Zeug_innen konnte daher nur einer am Vormittag vernommen werden. Kriminalhauptkommisar M., der bereits zuvor gegenüber der Soko Fieseler aussagte, die 2016 zur Aufklärung des Angriffs auf Ahmed I. gegründet wurde. Diese habe, ausgestattet mit einem hohen Personaleinsatz, verschiedene Hypothesen zum Tatmotiv gebildet und diese dann untersucht. Sie hätten das Tatmotiv einer rechtsmotivierten Tat untersucht als auch Straftäter ermittelt, die zuvor schon Menschen mit Messern angegriffen hätten. Ernst sei damals bei den Ermittlungen aufgetaucht und auch befragt worden. Er hatte zu dem damaligen Zeitpunkt Urlaub und gab an, zu Hause gewesen zu sein. Bei der späteren Befragung durch Rechtsanwalt Hoffmann, ob man nicht bei diesen beiden Kategorien auf Ernst stoßen hätte müssen, da Ernst ja 1992 schon einmal einen Menschen mit einem Messer angegriffen hatte und außerdem als rechter Straftäter bekannt sei, wurden die Versäumnisse der Polizeiarbeit 2016 sichtbar. Warum bei ihm, obwohl er in der Nähe des Tatortes wohnte, keine Hausdurchsuchung gemacht worden sei, erklärte M. damit, es habe damals keine ausreichenden Hinweise gegeben. Anscheinend gab es innerhalb der Soko eine Arbeitstrennung: die Analyse zu Straftäter_innen mit Messer wurde von einem Teil der Soko für Allgemeinkriminalität übernommen, wohingegen die rechtsmotivierten Straftäter_innen vom Staatsschutz ermittelt wurden. Hoffmanns Rückfrage, ob es Austausch zwischen diesen getrennten Ermittlungen gegeben habe, verneinte M.

Sagebiel intervenierte in dieser Befragung mit der Kritik, ob Hoffmanns Fragen irgendeine Relevanz zur Tataufklärung haben, abseits der Ermittlung von Fehlern der Polizeiarbeit. Diese Fehler herauszustellen und zu thematisieren liegt offenbar nicht im Interesse des Gerichts. Hier bleibt nur zu hoffen, dass der Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag diese Fragen noch aufgreifen wird. Dieser wird sich indes noch weiter verzögern, inzwischen ist klar, dass der Prozess sich noch bis in den Januar ziehen wird.


Arthur Romanowski und Laura Schilling

 

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