Das Ende der Beweisaufnahme - Verzweifelte Versuche noch aufzuklären

Das Ende der Beweisaufnahme im Dezember 2020 war geprägt von den Versuchen der Nebenklage, doch noch Aufklärung zu leisten. Die Auseinandersetzung um die von der Nebenklage Lübcke beantragte Beschlagnahmung der Handakten von Frank Hannig schwelte über Wochen im Gerichtssaal. Die Beantragung, Ablehnung, Gegenvorstellung und erneute Beantragung zur Beschlagnahmung der Handakten des im Juli von Stephan Ernst geschassten Rechtsanwalt sollte im Verfahren die Aussagen von Ernst zur Mittäterschaft von Markus H. stützen. Je länger jedoch die Auseinandersetzung um die rechtliche Möglichkeit und Notwendigkeit der Handakten gedauert hatte, desto ungewisser und zweifelhafter wurde deren Erkenntniswert. Als sie schließlich beschlagnahmt und am 03. Dezember 2020, dem 35. Prozesstag, verlesen wurden, bestätigte sich genau diese Befürchtung: In den von Frank Hannig ausgewiesenen Handakten sind wenig handschriftliche Notizen von Ernst, die seine Aussagen bestätigen, vielmehr reproduziert sich auch in diesen das Geständnis-Wirrwarr des Angeklagten. Am vorangegangen, 34., Verhandlungstag war es zu einem Eklat gekommen: Als der vorsitzende Richter Sagebiel sich aufgrund eines Spiegelartikels, in dem die Familie das Vorgehen des Senats kritisierte und auch ihr Unverständnis gegenüber der Haftentlassung von Markus H. zum Ausdruck brachte, zu einer Rede genötigt sah. In dieser Ansprache kritisierte Sagebiel scharf, dass die Familie anscheinend über die mediale Öffentlichkeit Druck auf den Senat ausüben wolle und betonte sowohl den prozessualen Grundsatz der Unschuldsvermutung, als auch den über dem Eingang stehenden ersten Artikel des Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. In diesem Sinne müsse er alle Prozessbeteiligten gleichbehandeln.

Diese wütende Rede über die aktive Ausgestaltung ihres Nebenklagerechts und öffentlichen Positionierung der Familie Lübcke im laufenden Gerichtsverfahren hob erneut heraus, wie wenig den Betroffenen zugehört wurde. Wie fair der Senat aber im Umgang mit allen Prozessbeteiligten war, stach wohl am deutlichsten bei der der Befragung von Ahmed I. heraus (die diskus berichtete). An jenem 34. Prozesstag kündigte sich ebenfalls das Urteil des Strafsenats hinsichtlich des rassistischen Angriffs auf Ahmed I. an: Sagebiel ließ verlauten, dass der Senat derzeit den Tatvorwurf des versuchten Mordes kritisch sehe. So war schon Anfang Dezember das Vor-Urteil zum Prozessende im Januar allen kritischen Prozessbeobachter_innen klar. Weitere Anstrengungen der Nebenklage wurden im Dezember entweder vom Senat abgelehnt oder lieferten keine neuen Beweise. Nicht zuletzt kritisierte der Anwalt von Ahmed I., Alexander Hoffmann, die Ablehnung seines Antrags zur weiteren datenforensischen Untersuchung eines USB-Sticks. Auf diesem war im Verlauf des Prozesses ein Kaufbeleg eines Messers aufgetaucht, welches zum Tatmesser passen könnte. Allerdings war auf dem Beleg nur die Messerserie angegeben, sodass eine eindeutige Identifizierung ausgeschlossen bleibt. Rechtsanwalt Hoffmann argumentierte in seiner Gegenvorstellung erneut für die Notwendigkeit dieser datenforensischen Untersuchung, seien sonst doch nur Belege und Rechnungen von erheblichem Wert aufgehoben gewesen, wie Versicherungsbelege etc.

Der auffällige Passant

Die letzten Prozesstage sollten keine grundlegend neuen Erkenntnisse mehr bringen. Zwar kamen in der Befragung des Angeklagten Ernst durch die Nebenklage Lübcke noch weitere Indizien zum Vorschein, den Senat schienen diese allerdings nicht mehr wirklich beeinflussen zu können. Am bedeutendsten war wohl die Aussage des Zeugen Christoph Lübcke, der eindrücklich und genau eine Szene beschrieb, an die er sich erst durch den laufenden Prozess wieder erinnerte. Im Frühjahr 2018, um Ostern herum und kurz nachdem sein Sohn geboren wurde, sprach er mit seinem Vater vor seinem Haus über seine geplante Masterarbeit. Währenddessen seien zwei Personen an ihnen vorbeigegangen. Sie hätten sich von diesen angestarrt gefühlt, weshalb ihm diese eindrückliche Situation wieder in Erinnerung gekommen sei. Auch sein Vater habe gefragt, was das denn für komische Personen gewesen seien. Die kleinere Person habe Christoph Lübcke aufgrund ihres eindrücklichen Grinsens an das Bild einer Guy-Fawkes-Maske erinnert und habe eine dunkelgrüne oder dunkelblaue Jacke im militärischen Stil und eine Batschkapp getragen. Diese Beschreibung passt assoziativ zum Aussehen Markus H.s und könnte Aussagen Ernsts über gemeinsame Ausspähbesuche mit H. in Wolfhagen-Istha bestätigen.

Die letzten Tage versuchte die Nebenklage Lübcke weitere Anträge zur Untersuchung von Schmauchspuren anfertigen zulassen, diese wurden vom Senat allerdings mit der geringen Aussicht auf Erfolg begründet abgelehnt. Auch die Zeug_innenbefragung verschiedener Wahlherfer_innen aus Kassel zeigte, dass am 6. Januar 2016 – der Nacht des Angriffs auf Ahmed I. – keine Wahlplakate beschädigt werden konnten, da diese größtenteils noch gar nicht für die kommende Kommunalwahl aufgehangen waren. Doch auch diese nachweisbare Falschaussage konnte den Senat in ihrem Vor-Urteil offensichtlich nicht umstimmen. Markus H. ließ sich überraschender Weise am letzten Tag der Beweisaufnahme noch ein, nachdem er den Prozess hindurch beharrlich gegrinst und von seinem Schweigerecht Gebrauch gemacht hatte – allerdings nur um sich zum Anklagepunkt des Waffendelikts zu äußern und abzustreiten, dass er die unzulängliche Entschärfung der Waffe erkannt habe. Nachdem H. während des Prozesses sich mit dem Waffensachverständigen detaillierte Auseinandersetzungen um diese Waffe geliefert hatte, wirkte seine geschilderte Unwissenheit besonders unglaubwürdig.

Plädoyer der Bundesanwaltschaft - „in seinem Hass war er nicht allein“

Am 40. Verhandlungstag dem 22. Dezember 2020 begannen die Abschlussplädoyers der Prozessbeteiligten. An diesem Tag hielten die Vertreter der Bundesanwaltschaft, Dieter Killmer und Daniel Otto, ihr Plädoyer und sahen die Anklage durch die Beweisaufnahme bestätigt. Dementsprechend forderten sie für Stephan Ernst wegen Mordes und versuchten Mordes aus rechtsextremistischen Motiven eine lebenslange Freiheitsstrafe mit Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und anschließender Sicherheitsverwahrung. Auch Markus H. habe aus rechter Gesinnung heraus beim Mord an Dr. Walter Lübcke vorsätzlich Hilfe geleistet und außerdem gegen das Waffengesetz verstoßen, weswegen sie für ihn eine Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 8 Monaten forderten. Das Plädoyer der Bundesanwaltschaft, welches insgesamt über 6 Stunden dauerte, beeindruckte vor allem durch die politisch-historische Einordnung der beiden Taten. Der rassistische Hintergrund der beiden rechten Gewalttäter wurde explizit benannt. Der Mord an Walter Lübcke habe verschiedene Dimensionen: eine politische Dimension, die sich gegen Geflüchtete richtete; eine gesellschaftliche, da Lübcke wegen seinem Eintreten für Werte getötet worden sei; und eine menschliche, die der Verlust der Familie bezeuge. Zwar sei Ernst, nach der Überzeugung der Bundesanwaltschaft, allein am Tatort gewesen, jedoch: „in seinem Hass war er nicht allein“. Sowohl das Umfeld online und offline habe ihn unterstützt und außerdem stehe die alleinige Tatbegehung in der Kontinuität des Konzepts des führerlosen Widerstands seit 1944. Killmer ordnete die Tat historisch in eine Reihe rechter Anschläge und Gewalt ein und führte unter anderem die Ermordung Walther Rathenaus, aber auch den Mord an Rudi Dutschke, die Morde an Shlomo Lewin und Frida Poeschke als auch die NSU-Mordserie auf. Besonders wichtig ist, dass die Bundesanwaltschaft auch den Angriff gegen Ahmed I. in seiner rassistischen Dimension benannte, da dieser eben kein Anschlag gegen seine Person gewesen sei, sondern sich gegen ihn als Geflüchteten richtete. In seiner Beweiswürdigung ging Killmer nochmal ausführlich auf die Beweisaufnahme ein und zeigte sich überzeugt, dass Stephan Ernst das Motiv, die Gelegenheit, die Fähigkeiten und die Tatwaffe für diesem Angriff gehabt habe. Niemand sonst weise „zufällig“ diese Merkmale auf, die Indizien in ihrer Gesamtheit sei eine „erdrückende Beweislage“. Ganz deutlich machte Killmer hier nochmal, dass die Aussagen von Ahmed I. für diese Einschätzung unerheblich seien und kritisierte die vorurteilsbehaftete Verteidigungsstrategie von Kaplan und Hardies.

Plädoyer der Nebenklage Lübcke - „Wo war der Verfassungsschutz?“

Das Plädoyer des Nebenklagevertreters der Familie Lübcke, Prof. Holger Matt, schloss sich am 41. Prozesstag, dem 12. Januar 2021, dem Plädoyer der Bundesanwaltschaft an. Jedoch versuchte Matt in seinem gut drei Stunden dauernden Schlussvortrag nochmals den Senat zu überzeugen, dass Markus H. eben nicht nur Beihilfe geleistet habe, sondern Mittäter sei. Er listete hierfür 30 Punkte auf, die die Mittäterschaft von H. belegen sollten. Das Ziel der Familie Lübcke als Nebenkläger_innen sei von Anfang an gewesen, dass der Mord an ihrem Vater und Ehemann vollständig aufgeklärt werden sollte. Sie wollten die Wahrheit über die letzten Minuten im Leben von Walter Lübcke erfahren. Sie seien auch im Andenken an dessen Werte regelmäßig nach Frankfurt in den Gerichtssaal gefahren, um für sie gegenüber Ernst und H. einzustehen. Dies sei aufgrund des dauergrinsenden Markus H. besonders schwer gewesen. Matt kritisierte die Fokussierung der Ermittlungen auf die Alleintäterthese und betonte das Versagen der staatlichen Behörden:

"Man dachte nach dem NSU, der Staat sei aufgewacht. Aber wo war der Verfassungsschutz, als sich Nazis mit Waffen eindecken? Als Walter Lübcke mit Morddrohungen überzogen wurde? Was machen die eigentlich?"

Plädoyer der Nebenklage Ahmed I. – Ein Plädoyer als Anklage

Das Plädoyer des Rechtsanwalts Alexander Hoffmann, der den Nebenkläger Ahmed I. vertrat, war kurz und konkret: Er kritisierte den Ermittlungswillen der Polizei und des Oberlandesgerichts Frankfurts und stellte die fatalen Unterlassungen dieser heraus.[3] Hoffmann schloss sich inhaltlich dem Plädoyer der Bundesanwaltschaft an und lobte diese für die politisch genaue Einordnung. Der Staatsschutzsenat hingegen habe, seiner besonderen Verantwortung gegenüber dem Staat bewusst, so agiert, wie erwartet: „Die Beweisaufnahme in diesem Verfahren wurde bewusst so geführt, dass zahlreiche Beweismittel, nämlich all diejenigen Beweismittel, die die jahrzehntelange Verbundenheit der Angeklagten mit der organisierten Naziszene belegen, im Selbstleseverfahren abgearbeitet wurden und damit der Öffentlichkeit entzogen sind.“ Nach der Ermittlung von Stephan Ernst seien im Wesentlichen die Ermittlungen eingestellt worden: „Man hatte einen Täter, einen Einzeltäter, vielleicht noch einen Mittäter, das war genug.“ Der Umgang des Senats mit seinem Mandanten sei „einzigartig“ gewesen und stehe zugleich in erschreckender Kontinuität zu anderen Verfahren, in denen „Opfern rechter Gewalt von Seiten der Behörden immer wieder mit Skepsis begegnet wird.“. Ahmed I. sei im Gerichtssaal kein Verständnis entgegengebracht und auch kein Raum gegeben worden. Stattdessen: Kleinteilige Befragungen, obwohl aufgrund der Aktenlage klar gewesen sei, dass es auf diese nicht ankomme. Auch die polizeilichen Ermittlungen seien von Respektlosigkeit geprägt gewesen. Bis 2020 sei Ahmed I. ohne schriftliche Vorladung immer wieder zu Hause zur Vernehmung abgeholt worden. „Ein Geflüchteter, der parieren soll, der keine Zeugenvorladung braucht, kommen und gehen soll wie es für die Beamten am bequemsten ist. Ein Geflüchteter, der Ärger machte, durch sein späteres Beharren, hier müsse ein rassistisches Tatmotiv vorliegen, sein Beharren, dass er sich in Kassel nicht mehr sicher fühlt und wegziehen will“. All dies stehe in der Kontinuität des strukturellen Rassismus der ermittelnden Behörden. Hoffmann wies darauf hin, dass Stephan Ernst sich vorwiegend selbst belastete und dessen Verteidigung aktiv verhinderte, dass Ernst weitere Angaben machen konnte. Ernsts Aussageverhalten müsse als Teilschweigen im Urteil berücksichtigt werden, forderte Hoffmann. Außerdem sei es nach diesem Gerichtsprozess klar, dass es für die gesellschaftliche Aufarbeitung Unterstützung aus der Gesellschaft brauche.

„Unterstützung von denjenigen, die erkannt haben, dass rassistische Gewalt, rassistische Straftaten ihren Ursprung in der Mitte der Gesellschaft haben. Von denjenigen, die erkannt haben, dass die bloße Aburteilung von Straftaten keine gesellschaftliche Wirkung hat, sondern die direkte Solidarität mit Opfern rassistischer Gewalt notwendig ist. Rassismus und nazistische Ideologie werden nicht durch Gerichtsurteile bekämpft, diese Auseinandersetzung findet nicht im Gerichtssaal statt.“

Zuletzt richtete Ahmed I. selbst Worte an den Senat in Frankfurt: Er sprach seine Solidarität mit der Familie Lübcke aus und forderte Gerechtigkeit. Er unterstrich die Bedeutung und Notwendigkeit in einem Rechtsstaat, dass auch er Gerechtigkeit erfahre.

Dies ist der erste Teil zum letzten Abschnitt im Prozess um den Mord an Walter Lübcke und den Angriff auf Ahmed I. Nach dem Fokus auf die letzten Zeugenaussagen und die Plädoyers wird es im zweiten Teil um die Plädoyers der Verteidigung und das Urteil gehen.

Arthur Romanowski und Laura Schilling