»Eine halbwegs komplette Kenntnis des Marxismus kostet heut, wie mir ein Kollege versichert hat, zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Goldmark und das ist dann ohne die Schikanen. Darunter kriegen Sie nichts Richtiges, höchstens so einen minderwertigen Marxismus ohne Hegel oder einen, wo der Ricardo fehlt usw. Mein Kollege rechnet übrigens nur die Kosten für die Bücher, die Hochschulgebühren und die Arbeitsstunden und nicht was Ihnen entgeht durch Schwierigkeiten in Ihrer Karriere oder gelegentliche Inhaftierung, und er läßt weg, daß die Leistungen in bürgerlichen Berufen bedenklich sinken nach einer gründlichen Marxlektüre; in bestimmten Fächern wie Geschichte oder Philosophie werdens nie wieder wirklich gut sein, wenns den Marx durchgegangen sind.« (Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche, 1940/41)

Ein überfülltes Seminar, stickige Luft, Auftaktsitzung. Der Seminarplan für das Semester wird herumgereicht; stumm an die Sitznachbarin weitergegeben. Auf dem Blatt steht das ambitionierte Programm für die nächsten wöchentlichen Sitzungen: Karl Marx. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie.Manch Übereifriger hat bereits den blauen Band 23 der berüchtigten Marx-Engels-Werke vor sich liegen. Die Erwartungen sind hoch: Es steht nichts weniger auf dem Spiel als die Kritik des Kapitalismus, der unsrigen Gesellschaftsform.

Warum ein über 150 Jahre altes Buch lesen? Warum drängen so viele Studierende in eine Lehrveranstaltung an der Universität? Was ist die Motivation etwas zu studieren, von dem Bertolt Brecht nicht nur vorrechnet, welch erhebliche Kosten es hat, sondern was in klassischen Berufen, vom Wissenschaftsbetrieb ganz zu schweigen, erhebliche Probleme mit sich bringen wird?

Brecht äußert in seinen Flüchtlingsgesprächen die Vorstellung, dass ein gründliches Studium von Marx und dem Marxismus einen tiefen Einschnitt im eigenen Denken bedeutet. Daran hat sich heute wenig geändert. Manchmal reicht sogar schon die Lektüre eines Textes der Kritischen Theorie aus, die sich der Fortführung der Marx’schen Kritik verschrieben hat, damit Zweifel an akademischer Wissenschaft und bürgerlicher Philosophie aufkommen. Genauso haben es Absolvent*innen heutzutage, die sich über Texte von Marx und der Kritischen Theorie mit der Gesellschaft auseinandergesetzt haben, im Berufsleben nicht leicht: Zum einen ist ihr Wissen und ihre Ausbildung schlecht kapitalisierbar. Zum anderen bleibt im klassischen sozial- und geisteswissenschaftlichen Gang durch die Betriebe – Wissenschaft, Kultur und Politik – das Unbehagen. Ist dieses Wissen um unsere systematisch unvernünftig eingerichtete Gesellschaft erst mal vorhanden, lässt es sich nicht mehr aus dem Bewusstsein verdrängen. Was es bedeutet Marx zu lesen, ist eine Chiffre für die Erfahrung im Studium und bei der Lektüre von Marx und der Kritischen Theorie: das Potential des eigenen Denkens beim Lesen, das Glück über die Erkenntnis, das Verstehen von Zusammenhängen und zugleich die Wut über das Ganze und die Ohnmacht, alleine kaum etwas daran ändern zu können.

Einstiege in die Lektüre

In einem Interview spricht Detlev Claussen, Jahrgang 1948 und als Student in Frankfurt ein Schüler Adornos, über seinen ersten Kontakt mit der Kritischen Theorie. Für Soziologie eingeschrieben hatte sich Claussen nach einem Vortrag Adornos, den er 1964 als Schüler in Bremen begeistert gehört hatte. Bereits 1966 kam er in Frankfurt in Kontakt mit dem berühmten Studenten und SDS-Aktivisten der 68er-Bewegung, Hans-Jürgen Krahl. Der nahm ihn unter seine Fittiche und wies Claussen auf das Studium der Kritischen Theorie ganz pragmatisch hin: Einmal im Monat käme jemand in die Studierendenwohnheime mit den Texten der Kritischen Theorie, die damals nur als Raubdrucke kursierten. Dort solle sich Claussen zwei Bücher besorgen: Zum einen die Dialektik der Aufklärung von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, zum anderen Geschichte und Klassenbewusstsein von Georg Lukács. Gesagt getan. Über den Einfluss dieser beiden Bücher, die Claussen am Ende seines ersten Semesters 1967 besorgte, und über die Bedeutung für sein weiteres Leben stellte er fest: ‚Die beiden Bücher haben mein Leben verändert. Zumindest mein geistiges Leben.‘

Was nach kitschiger Frankfurter Folklore klingen mag, ist tatsächlich aber etwas, das es heute immer noch gibt. Ob es nun die Dialektik der Aufklärung oder ein anderes Buch, ein brillantes Seminar, eine engagierte Dozentin, ein eingängiges Zitat oder ein Lesekreis mit Kommiliton*innen ist: Es gibt Momente und Erkenntnisse mit der Theorie und Texten, die etwas verändern in unserem Denken, in unserem Charakter, in unseren grundlegenden Überzeugungen. Eine ist, dass wir alle Teil der Gesellschaft sind: Teil von Geschlechterverhältnissen; wir bewegen uns in Familienstrukturen und gehen Lohnarbeit nach, sind umgeben von Autoritäten und regressiven Antworten auf die Probleme der Moderne. Diese Gesellschaft hat kein Außen – keine Möglichkeit, sich außerhalb ihrer zu bewegen. Die persönliche Verstrickung mit diesen falschen Verhältnissen ist etwas, das wir anfangs vielleicht nur diffus spüren. In der Tradition von Hegel, Marx, Freud, Adorno und Horkheimer hat dieses Gefühl aber verschiedene Theoretisierungen und Bezeichnungen erhalten: Entäußerung und Entfremdung, Fetischismus und Verdinglichung, Nervosität und Neurosen – diesen Phänomenen und Begriffen ist gemein, dass sie – wenngleich mit ganz unterschiedlicher Färbung – dieses Unbehagen auf der Ebene unseres Alltages einzufangen versuchen. Noch mehr: Wurde durch das Lesen der Theorien ein Verständnis für diese Phänomene und Bezeichnungen entwickelt, helfen sie dabei, ein zunächst reines Gefühl oder eine dumpfe Ahnung von der Falschheit mit Begriffen zu erfassen und sich darüber mit anderen zu verständigen.

Verglichen mit der Erzählung von Claussen stellt sich die Situation heute anders dar. Für die blauen Marx-Engels-Werke muss man kein Vermögen mehr ausgeben, sie sind frei und legal online abrufbar. Auch Raubdrucke gibt es nicht mehr. Auf Knopfdruck lassen sich die großen Werke von Marx, Adorno und Horkheimer bestellen. Mit Premiummitgliedschaft sind sie schon am nächsten Tag auf dem Schreibtisch. Alles gut also? Wohl kaum! Soziale Ungleichheiten in der Klassengesellschaft und die ideologische Verfassung des bürgerlichen Wissenschaftsbetriebs verhindern zu häufig einen solchen Einstieg und ein Studium, das über seine Ränder noch immer die Möglichkeit umfassender Gesellschaftskritik zulässt. Letztere hieße unter anderem, das Unbehagen und die Fremdheit mit der Welt und ihren Ungerechtigkeiten nicht als einen persönlichen Schicksalszusammenhang zu verstehen; sondern das historisch Gewordene und seine Strukturen als etwas zu begreifen, das zu kritisieren und auch zu überwinden ist.

Spracherwerb

Texte von Marx oder der Kritischen Theorie zu lesen, bedeutet, eine neue Sprache zu erlernen. Deshalb sei allen interessierten Leser*innen der Rat ans Herz gelegt, Texte von Marx und der Kritischen Theorie im Original zu lesen. Das liegt schlichtweg daran, dass ihre Schriften zum einen nicht in portionierten Lehrbuchkapiteln zusammengefasst oder von ChatGPT nachgeahmt werden können. Marx richtete sich im Vorwort zu ersten Auflage des Kapital direkt an seine Leser*innen: »Ich unterstelle natürlich Leser, die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen.« Zum anderen, weil uns die Kritische Theorie eine Sprache, eine Form, einen Ausdruck gibt, in der wir unser Unbehagen (vielleicht erstmalig) artikulieren können und sie uns Begriffe für die komplexe Wirklichkeit an die Hand gibt.

Es war Marx, der mit der Kritik der politischen Ökonomie eben keineswegs eine Analyse, ein Forschungsprogramm oder gar eine Theorie des Kapitalismus vorgelegt hatte. Stattdessen entwickelte er Kategorien weiter oder prägte sie, wie etwa Wert und Ware, Mehrwert und Ausbeutung, die für Marx »zugleich Darstellung des Systems und durch die Darstellung Kritik desselben« ermöglichen sollen. Die Marx’schen Kategorien und die Fortführung in der Kritischen Theorie dienen also gleichzeitig dem Verstehen und der Kritik der bestehenden Verhältnisse. Sie bezeugen das Unbehagen mit dem Zustand der Welt, ohne sich mit diesem zufrieden zu geben.

Ganz konkret kann das heutzutage bedeuten, bei Denkformen und Alltagsbegriffen anzusetzen und sie zu kritisieren: Das können die Alltagsreligionen sein, wie sie uns im Gewand von Selbstoptimierung oder Esoterik entgegentreten; diese sind Ausdruck von Vereinzelung und dem verlorenen Glauben an eine politische und solidarische Lösung der Krisen unserer Gegenwart. Das können auch die ideologischen Phrasen von politischer Alternativlosigkeit und wirtschaftlichem Sparzwang sein, wenn wir eine Tageszeitung aufschlagen. Es kann auch bedeuten, das Gerede von Zusammenhalt, Integration und Diversität, die sich in der Sprache der Gegenwart eingenistet hat, der Kritik zu unterziehen und zu fragen: Wer soll sich wo integrieren? Was bedeutet eigentlich Anpassung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft, eine Gesellschaft, in der nazistischer Terror und faschistisches Gedankengut seit Jahren zunehmen? Kritik hieße dann, den Alltagsreligionen, den Phrasen und dem Gerede im Wissen um ihre Falschheit eine Einsicht in die Gesellschaft abzutrotzen – ohne in Apathie oder Ohnmacht zu verfallen. Es hieße stattdessen, Wiederkehrendes und Strukturen zu erkennen – oder in der Sprache der Kritischen Theorie: alle Momente eines vermittelten Zusammenhangs als ein Ganzes zu verstehen.

Theorie und Praxis

Dass es nicht ausreicht, Marx zu lesen, hat dieser 1843/44 – noch vor seinen großen theoretischen Arbeiten – selbst ausgesprochen: Die Kritik endet im »kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« Das heißt, dass die Marx’schen Erkenntnisse und die seiner Nachfolgenden nicht für Dissertationen und Bücherschränke gemacht sind, sondern in der Forderung münden, dass es so, wie es ist, nicht bleiben kann. Freilich, keine leichte Aufgabe: Denn die Sprache und die Form in der Theorie, in der wir unser Unbehagen ausdrücken können, beendet eben nicht das Unbehagen, sondern löst nur die Mystifikation auf. Die Praxis wird nicht durch die Theorie ersetzt – noch einmal in Marx‘ Worten: »Die Kritik ist keine Leidenschaft des Kopfes, sie ist der Kopf der Leidenschaft.«

Marx zu lesen, heißt also auch – mit Nebenjob, um die hohe Miete zu bezahlen, und mit genug Zeit, um neben der obligatorischen Pflichtlektüre auch noch andere Textein die Hand zu nehmen – dem Marx’schen kategorischen Imperativ, gerecht zu werden. Das kann klassischer Aktivismus sein: Gewerkschaftsarbeit, (Hochschul-)Politik oder kritische Bildungsarbeit; oder aber die unsichtbare Arbeit in der zweiten Reihe – vom Lektorat und der nächsten Redaktionssitzung bis hin zur Suche nach neuen Verbündeten im Handgemenge und der Solidarität im Kleinen.

Alles oder nichts

Obwohl es müßig ist, das immer wieder zu betonen: Marx und Kritische Theorie sind nicht nur eine Perspektive neben vielen anderen. Ihre Bedeutung erschöpft sich nicht in einem historisierenden Lehrbuchkapitel. Marx mag als erster den Kapitalismus und dessen brutale Prozesse der Vergesellschaftung aufgeschlüsselt haben; dabei sind die Nachfolger*innen dessen Kritischer Theorie aber nicht stehen geblieben. Die jüdischen Emigrant*innen stellten sich die Frage, was es mit der einst (oder überhaupt jemals?) revolutionären Klasse und ihrer Verstrickung im und Beteiligung am Faschismus auf sich habe. Unmöglich, so etwas mit ökonomischen Kategorien zu verstehen, griffen sie auf die Psychoanalyse als Subjekttheorie zurück. In den Studien zu Persönlichkeit, Familie und Propaganda wurde der sog. autoritäre Charakter isoliert, ohne den Glauben an die Bedingung der Möglichkeit von so etwas wie Befreiung zu verlieren. Das heißt, dass die eigene Tradition – ob sie als materialistisch, dialektisch oder als einfach nur kritisch bezeichnet wird – stets revidiert wurde und im emphatischen Sinne aktualisiert werden musste. Damit ist freilich etwas anderes gemeint, als die heutigen Anschlüsse und Aktualisierungen dieser Tage berichten. Letztere stellen im diffusen Verweis auf diese mittlerweile mythischen Autoritäten ihr eigenes Programm auf, das sich nicht mehr vor der Wirklichkeit, sondern nur mehr vor der nächsten Drittmittelförderung behaupten muss.

Die Kritische Theorie entzieht sich somit dem vorwiegend instrumentellen Verständnis von Theorie im gegenwärtigen Wissenschaftsbetrieb und lässt sich nicht ohne weiteres in diesen integrieren. Stattdessen ist sie eng an die historischen Erfahrungen geknüpft, aus denen heraus sie entstanden ist: keine Kritische Theorie ohne die Erfahrung der Emigration, ohne Amerika und keine Kritische Theorie ohne Auschwitz. Vergessen kann das nur, wer es nicht verstanden hat oder begreifen will.

(Kein) Schlussstrich

Marx zu lesen, heißt aber auch, dass die Bedingungen dafür natürlich erst geschaffen werden müssen, einen Zugang und ein Verständnis dafür zu etablieren. Gab es an einigen Universitäten in der deutschen Nachkriegszeit herausragende Lehrpersönlichkeiten und engagierte Dozierende, mit denen zunächst einmal vier Semester lang die Grundlagentexte aus Philosophie, Soziologie, Ökonomie und Politikwissenschaft gelesen wurden, ist das heute anders. Auch wenn hie und da vereinzelt Lehrende existieren, die solche Lehrveranstaltungen aus eigener Bereitschaft anbieten, einzelne Seminarpläne herumfliegen, in deren Lektürehinweisen einmal ein Name der mythischen Frankfurter auftaucht: So liegt es heute vornehmlich an Studierenden, sich für die skizzierte kritische Tradition und deren Vermittlung an der Universität einzusetzen. Diese Broschüre und Dokumentation legt davon Zeugnis ab. Die Legitimation studentischen Engagements rührt – neben der Dringlichkeit der Sache selbst – von der Resonanz der vielen interessierten Studierenden her, die zahlreich zu diesen Lehrveranstaltungen erscheinen und auf der Suche nach Antworten jenseits des hiesigen Wissensapparats sind. Doch an die Studierenden, die in den Genuss kommen, diese Angebote wahrnehmen zu können, geht stillschweigend die Verantwortung über, das Wissen weiterzutragen, sich als Teil der Gesellschaft zu begreifen und in diese hineinzuwirken.

Die Beantragung von QSL-Mitteln, seitenlangen E-Mails und Diskussionen mit Universitäts- und Fachbereichsleitungen, die Suche nach Dozierenden und die Gespräche mit ebenjenen – die übrigens auch oft einmal an rein formalen und finanziellen Gründen scheitern –, die Einrichtung von OLAT-Kursen: Das alles ist Arbeit, anstrengende und nervige – naiv aber wäre zu fragen, warum diese Vorlesungen, Seminare und Lektürekurse nicht einfach da sind oder wie sie je verschwinden konnten. Eben deshalb, weil die institutionelle und akademische Verankerung von Marx und der Kritischen Theorie eine historische Ausnahme im bürgerlichen Geschäft der Wissenschaft bleibt.

Seit dem Rückzug Horkheimers und dem Tod Adornos werden die Klagen über die Verwässerung authentischer Kritischer Theorie hin zum Frankfurter Schulbetrieb zu Recht lauter. Ihr akademischer Bestand zehrt von den Resten eben dieser einmaligen Konstellation einer Kritischen Theorie der Gesellschaft – der Politik und Ökonomie, der Kultur und Wissenschaft, des Antisemitismus und Rassismus. Einer Theorie, die sich selbst als eine geschichtlich situierte und in der befreiten Gesellschaft als überwundene versteht, mithin die eigene Stellung als eine solche Theorie selbst reflektiert. Der erste Satz in der Negativen Dialektik Adornos drückt das aus: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.«

Die institutionellen Ausläufer und Restbestände, von denen wir heute zehren, sollen nicht alternativlos bleiben: Die weiteren Texte in dieser Broschüre zeigen, dass es für interessierte und engagierte Studierende möglich ist, diese Infrastruktur jenseits privater Lesekreise aufzubauen, in denen all diese Fragen artikuliert werden können. Kurzum: Marx aus dem verstaubten Bücherregal zu holen und die blauen Bände wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Oder so ähnlich. Es gibt nichts zu verlieren, aber alles zu gewinnen: eine Sprache für das eigene Unbehagen, ein Verständnis der Welt und ihrer Bestandteile und nicht zuletzt die Hinweise darauf, wie es einmal anders sein könnte.