Wir führen dieses Gespräch nach der ersten Wahlrunde der Türkei, das Ergebnis stellt sich als Kopf-an-Kopf-Rennen dar. Das Regierungsbündnis „Volksallianz“ („Cumhur İttifakı“: AKP/MHP/BBP) mit dem Präsidentschaftskandidaten Recep Tayyip Erdoğan kam auf 49,25 Prozent der Stimmen, sein Gegner Kemal Kılıçdaroğlu vom stärksten Oppositionsbündnis „Bündnis der Nation“ („Millet İttifakı“: CHP/ IYİ/DP/SP) erlangte 45,05 Prozent. Die Wahlbeteiligung lag bei 88,78 Prozent. Dieses Gespräch dreht sich um die Atmosphäre in der Türkei vor und während der Wahlen. Es wurde mit einem Mitglied der Wahlkommission für das „Bündnis Arbeit und Freiheit“ („Emek ve Özgürlük İttifakı“: HDP, Yeşil Sol Parti, EMEP, TIP) geführt und fand am 18. Mai 2023 statt, d.h. noch vor der anstehenden Stichwahl, die der Amtsinhaber Erdoğan mit 52 Prozent für sich entschied.

Ist die erste Wahl inklusive Ergebnis so verlaufen, wie du es erwartet hast?

Vorweg muss man sagen, dass die Wahlen in einer Stimmung stattgefunden haben, die stark nationalistisch-chauvinistisch geprägt ist. Die AKP tritt seit knapp 8 Jahren restriktiv auf (sie ist rassistisch, leugnet Minderheiten und eigene Fehler, verfolgt Oppositionelle und Kurd*innen). Sie kontrolliert die Medien und die gesamte Staatsgewalt. So wurden Erdoğans Reden in über 30 Fernsehsendern live ausgestrahlt, während die Opposition einschließlich der CHP und HDP kaum die Möglichkeit hatten, sich gegenüber den Wähler*innen Ausdruck zu verleihen. Zudem überboten sich bündnisübergreifend Parteien in ihrem Nationalismus (vor allem: die MHP mit 10 Prozent, die IYİ mit 10 Prozent, das ATA-Bündnis mit 5 Prozent). Die drei ultrarechten Parteien haben zusammen fast 30 Prozent der Stimmen bekommen; inklusive der AKP haben die Faschisten also über 60 Prozent der Stimmen bekommen. Das ist wirklich erschreckend. Dazu kommt, dass die linke/kurdische Opposition massiv unter Druck steht (v.a. linke Medien werden verboten, dutzende Journalist*innen wurden im Zuge des Wahlkampfes festgenommen, ganze Agenturen lagen deshalb flach und Zeitungen konnten nicht berichten, etc.). Dazu kommt, dass in den letzten fünf bis sieben Jahren mehr als 10 000 Oppositionelle (Kurd*innen, Linke) in Gefängnisse geworfen wurden, wodurch besonders die HDP geschwächt wurde. Genauso viele, wenn nicht gar doppelt so viele, mussten das Land verlassen, weil ihnen Haftstrafen und Verfolgung drohten. Ja, das war die Atmosphäre, in der der Wahlkampf stattfand. Aufgrund dieses Hintergrundes habe ich das Ergebnis sehr ähnlich erwartet. Ich wurde dafür oft pessimistisch genannt, habe aber immer gesagt:  Erdoğan hat alle nur denkbaren Möglichkeiten des Staates ausgenutzt und Vorkehrung dafür getroffen, damit er gewinnt (Änderung des Wahlgesetzes, Einsetzung einer ihm gut gesinnten Wahlkommission, etc.). Man kann also zweifelsohne behaupten: Wenn Wahlen etwas ändern würden, hätte sich Erdoğan nie zur Wahl gestellt, sondern die Wahlen von Anfang an verboten. Dadurch kam es zu einer Stimmung im Land, in der ein fairer Wahlkampf von vornherein verunmöglicht wurde. Die Frage bleibt natürlich, warum man unter solchen Umständen keinen Wahlboykott initiiert hat. Doch obwohl das tatsächlich zur Debatte stand, sahen schließlich alle oppositionellen Kräfte die Wahl als eine wichtige Möglichkeit an, um politisch zu wirken, Menschen zu erreichen und zu zeigen: Es gibt Alternativen zum Faschismus, Islamismus und Chauvinismus in der Türkei.

Nach Inflation und Erdbeben hatten viele die Hoffnung, dass Erdoğan die Unterstützung entzogen werden würde. Was ist deine Einschätzung dazu, dass noch immer knapp die Hälfte der türkischen Staatsbürger*innen dies nicht getan haben?

Die Krisen (Inflation, Erdbeben, Krieg) haben aus Erdoğan eine Art Messias in den Augen der Bevölkerung gemacht. In einer Atmosphäre, in der Menschen kaum mehr Hoffnung haben und Erdoğan gleichzeitig der einzig Sichtbare ist, der mit scheinbaren Versprechungen auf Lösungen ankommt, wundert es nicht, dass er dann erfolgreich alle Instrumente nutzt und sich als Messias präsentiert. Die Menschen sehnen sich nach einem starken Führer. Die Verelendungstheorie trifft halt auch nicht immer zu.

Also bleibst du bei deinem Pessimismus?

Ja! Aber das heißt natürlich nicht, dass der Kampf gegen Erdoğan und sein Regime nicht weitergeht, sondern nur, dass diese Wahlen an seiner Macht nichts ändern können. Das wird allein daran deutlich, wenn man sich anschaut, was in den letzten Jahren in der Türkei auf politischer Ebene passiert ist: jegliche demokratische Opposition wurde mundtot gemacht, Menschen, die auf Social Media Kritik gegen Erdoğan und sein Regime veröffentlichen, landen nach wie vor hinter Gittern. In so einer Atmosphäre von einer freien, demokratischen Wahl zu reden, wie wir sie vielleicht aus den "bürgerlichen Demokratien" kennen, ist nicht möglich. Und deswegen glaube ich nicht, dass man durch Wahlen das Erdoğan-Regime besiegen kann. Diese Auffassung teilt auch die HDP – die im Übrigen vom Verbotsverfahren bedroht worden ist – nur weil sie nicht als HDP, sondern als die Grüne Linkspartei kandidiert hat, ist sie nicht verboten worden. Trotzdem war es ein Instrument, um die HDP von den Wahlen auszuschließen. Kurz: Die Wahlen sind nur ein kleiner Teil des Kampfes. Viel wichtiger ist es, die Straße und die Opposition zu organisieren. Natürlich ist auch das in der Türkei, aufgrund der genannten Repressionen, mehr als schwierig. Deswegen ist es mir wichtig, nicht das Bild zu vermitteln, dass durch die Wahlen irgendetwas erreicht oder verändert werden könnte (wie die CHP es z.B. immer wieder betont). Der Zug dafür ist meiner Einschätzung nach in der Türkei längst abgefahren. Das sieht man z.B. daran, dass Erdoğan in Kahramanmaras, der Stadt, die am meisten vom Erdbeben betroffen ist, knapp 70 Prozent der Stimmen bekommen hat. Gleichzeitig ist nicht zu leugnen, dass die Strategie der Opposition in Teilen erfolgreich war: Die Wahlen wurden genutzt, um mehr Menschen zu erreichen und über den menschenfeindlichen Charakter des Regimes öffentlich aufzuklären. So hat die AKP sowie Erdoğan selbst knapp drei Millionen Stimmen weniger bekommen. Ob die Menschen von einer alternativen Politik überzeugt wurden, ist selbstverständlich eine andere Frage. Es steht für mich jedenfalls fest, dass Erdoğan die Stichwahlen am 28. Mai gewinnen wird.

Würde die CHP gewinnen, welche Möglichkeiten erhoffst du dir dadurch für die Handlungsfähigkeit einer politischen Linken, für Oppositionelle und Unterdrückte?

Die CHP hatte immerhin die Freilassung aller politischer Gefangenen versprochen. Das wäre definitiv ein Zwischensieg gewesen. Darüber hinaus unterscheidet sich das Programm der CHP jedoch kaum vom Programm der anderen rechten Parteien. Der einzige gemeinsame Nenner der Oppositionsparteien war die Gegnerschaft zum aktuellen Regime. Aber sie selbst haben wenig bzw. keine Ziele zur Demokratisierung des Landes, zur Lösung der Probleme des Landes. Weder bezüglich der wirtschaftlichen Krise noch der Hilfe für die Erdbebenopfer. Das ist viel zu wenig, würde ich behaupten. Aber es gibt ja noch eine linke Opposition, die mit der kurdischen Bewegung zusammenarbeitet und die immerhin über 10 Prozent der Stimmen bekommen hat (Bündnis für Arbeit und Freiheit). In dieser Situation ist das ein Hoffnungsschimmer. Nun kommt es darauf an, diese errungene Basis weiter auszubauen, weiter in den Kämpfen verankert zu bleiben und nicht nur alles dem Parlamentarismus zu überlassen. Dort sind die Spielräume der linken und kurdischen Bewegung viel zu gering, sie wird vereinnahmt und mehr geführt als gefördert. Wir müssen jenseits der bereits vorhandenen Wege andere Möglichkeiten schaffen, um eine starke Opposition und einen demokratischen Prozess zu organisieren, um Freiheit zu erkämpfen.

Können wir in Deutschland irgendwas tun, um oppositionelle Kräfte in der Türkei zu unterstützen?

Nach wie vor arbeitet die Bundesregierung mit dem Erdoğan-Regime auf allen Ebenen zusammen und lässt ihm Unterstützung zukommen. So oder so ist die Türkei ein wichtiger NATO - und Bündnispartner - egal, wer gerade an der Macht ist. Sie kann machen, was sie will, weil man sie braucht (v.a. für das Aufhalten von Geflüchteten und als Brücke zum Nahen Osten). Das über alles hinweggesehen wird sieht man beispielhaft an einem kürzlich stattgefundenen Treffen des Europäischen Rates: Die Wahlen in der Türkei und die Rolle der AKP mitsamt ihren Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen wurden mit keinem Wort erwähnt oder gar in Frage gestellt (anders als bspw. bei Russland). Die eigenen Beschlüsse des Europäischen Gerichtshofes schert sie nicht und sie werden damit praktisch nicht eingehalten. Die Medien in Deutschland haben viel darüber berichtet, wie gleichgeschaltet die Medien in der Türkei sind, wie die Polizei und das Militär zentralgeschaltet sind und genutzt werden. Man weiß darüber. Man weiß auch, dass in Kurdistan täglich Menschen getötet werden. Aber es tut sich nichts. Man hält an dem Bündnispartner Türkei aufgrund seiner Unverzichtbarkeit für die Durchsetzung eigener Interessen fest. Das ist ein Problem, welches man immer wieder aufzeigen muss. Ein anderer Weg wäre, sich solidarisch zu zeigen mit der Opposition, mit Menschen in der Türkei, die durch das Regime leiden. Da könnte jede*r Einzelne etwas tun. Es sind z.B. Menschen während der Wahlen in die Türkei gereist, um währenddessen symbolisch ihre Solidarität kundzutun - indem sie vor Ort waren und Wahlbeobachtungen durchgeführt haben, indem sie über die Zustände Medien und Öffentlichkeit auch in Deutschland informiert haben. Das zeigt: Es ist möglich, differenziert hinzusehen und sich einzubringen.

Das Interview wurde zudem im Transmitter 06/23 abgedruckt und online unter: https://www.fsk-hh.org/transmitter