In seinem ebenfalls hier abgedruckten Beitrag Across Bockenheimer Landstraße (Seiten 7-12) nimmt Serhat Karakayali u. a. die »zwanglos populistische Terminologie « der Häuserkampf-Aktivist*innen aufs Korn und beschreibt, wie letztere sich in ihren Äußerungen auf einzelne Personen konzentrierten und damit keine Gesellschaftskritik leisten, sondern bloß gegen Spekulanten agitieren konnten. Teile der Linken, so schreibt Karakayali weiter, seien später allerdings zur Einsicht gelangt, dass eine solche Agitation von antisemitischen Mustern nicht weit entfernt ist. Sie hätten betont,

 

»daß der Kampf erst dann politisch werde, wenn er ›kein salonfähiger Mietwucherprotest mehr ist‹ (Häuserrat/AStA 1973: 4), sondern sich gegen Polizei, Staatsschutz, Ausländerbehörde, Gerichte, bürgerliche Presse und Stadtverwaltung richte (ebd.). Die Strategie, mit dem latenten Antisemitismus umzugehen, bestand zumeist in einer Art politökonomischer Aufklärung: ›Der Angriffspunkt des Häuserkampfs muß noch mehr die SPD, müssen die Banken sein.‹ (Gerte/Georg/Scott in diskus 1/1973: 28); ›SPD und Banken sind die wahren Spekulanten‹ (vgl. Häuserrat 1974: 14).«

 

Das erste von Karakayali angeführte Zitat über SPD und Banken stammt ebenfalls aus dem Text Widerstand ist möglich, der genau an dieser Stelle anknüpft. Wir werden hier zu zeigen versuchen, dass der Text sich zwar – wie Karakayali schreibt – gegen offen antisemitischen »Mietwucherprotest« ausspricht, dass er jedoch, indem er einzelne Schuldige sucht, die er für die Probleme eines gesellschaftlichen Zusammenhangs verantwortlich machen kann, sich nicht vom Antisemitismus befreit. Nur weil der Text nicht offen gegen das Hassobjekt Jude geht, ist er deswegen nicht ›weniger schlimm‹ und auch nicht weniger antisemitisch. Das, was gemeinhin ›struktureller Antisemitismus‹ genannt wird, ist eben nicht ›nur‹ von der Struktur her antisemitisch, sondern weil es von der Struktur antisemitisch ist, sagen wir: Das genau ist Antisemitismus.

Dennoch unterscheidet sich der Antisemitismus in diesem Text deutlich von jenem, der schlicht gegen Juden und/oder ›Spekulantenschweine‹ hetzt. Die Hetze gegen besagte Spekulantenschweine nämlich kritisiert er als »Antisemitismus der Bürger und Kleinbürger« (S. 23), der von einigen Linken übernommen worden sei; davon distanziert der Text sich. Zwar meint er lapidar: »In der Tat spielen diese Frankfurter Juden eine finstere Rolle.« (S. 22) – Dann aber stellt er fest, dass die Spekulanten nicht zum »zentralen Angriffspunkt« gemacht werden sollten. Die Autor*innen rechnen vor, dass die jüdischen Spekulanten (diese »zwanzig jüdischen Geschäftsleute«) gar nicht genügend Geld hätten, um so viele Häuser zu kaufen, und dass deswegen hinter ihnen die Banken stehen müssen. Damit wiederum verkennt der Text, dass Antisemiten faktenresistent und für Argumentation unzugänglich sind, und meint absurderweise, die Frankfurter Juden ausgerechnet dadurch vor dem Antisemitismus in Schutz nehmen zu können – das Gegenteil von gut ist gut gemeint –, dass er sie zwar als Teil einer Verschwörung identifiziert, aber nicht als Drahtzieher, sondern als Opfer und Marionetten. Die wahren Drahtzieher, die Banken nämlich,

 

»bleiben im Hintergrund, während die durchs KZ geschleiften Juden ihnen die Drecksarbeit abnehmen und in der bürgerlichen Bevölkerung einen offenen Antisemitismus erzeugen. Wieder ist es ›der Jude‹, der ›raffig‹ alles aufkauft und ruiniert. Der berechtigte [sic!] Haß der betroffenen Bevölkerung richtet sich nicht gegen die Banken der Monopole, sondern gegen Handlanger, deren Leben vom deutschen Kapitalismus so zerstört wurde, daß sie – überlebend – nichts mehr machen können als Geschäfte. « (S. 22)

 

Der Text distanziert sich von jenen, die den Juden selbst die Schuld am Antisemitismus geben, und stellt letztere stattdessen als Opfer dar. Von Gesellschaftskritik ist er damit noch immer himmelweit entfernt. Dass nicht »die Banken« das Problem sind, sondern die kapitalistische Vergesellschaftung – davon hat er nichts begriffen: Verschwörungsdenken und Antisemitismus in Reinform, auf der Höhe der Zeit. Der Antisemitismus in diesem Text ist einer, der aus der Geschichte gerade so viel gelernt hat, dass er weiß: Ich darf nicht sagen, dass die Juden böse sind. – Ein Antisemitismus, der das antisemitische Ressentiment zwar von den Juden löst, um es im gleichen Atemzug wiederum zu rechtfertigen und zu rationalisieren (»der berechtigte Haß der betroffenen Bevölkerung«) und einfach auf ein anderes Hassobjekt zu projizieren. Die ›Wahl‹ dieses ›neuen‹ Hassobjekts ist übrigens alles andere als zufällig, da Banken und Juden in der Geschichte des Antisemitismus in einem engen Zusammenhang gestanden haben und weiter stehen. Was beide Hassobjekte eint, ist die obsessive Beharrlichkeit, mit der die Antisemiten nicht aufhören können zu fragen: ›Und wer steckt dahinter?‹

Die Probleme beginnen schon am Anfang des Textes. Dort finden wir eine knappe Darstellung der Wohnraumsituation in Frankfurt sowie der diversen Protestaktionen und Besetzungen im »Frankfurter Wohnungskampf«. Letzteren erklärt der Text aus dem »Widerspruch zwischen den Interessen des Kapitals und den Interessen der Menschen auf menschliches Wohnen« (S. 18). Schon diese Formulierung spricht Bände. Denn die »Interessen der Menschen« sind im Kapitalismus den Interessen »des Kapitals« eben nicht einfach entgegengesetzt. »Das Kapital« spricht den Menschen ihr Interesse auf »menschliches Wohnen« weder zu noch ab, sondern verfährt damit so, wie es seiner eigenen Verwertung im jeweiligen Fall am besten entspricht. Sofern die Menschen sich in diesen Verhältnissen reproduzieren – und das tun sie Tag für Tag, weil andere Verhältnisse bis zur besseren Einsicht versperrt sind –, sind die »Interessen der Menschen« kapitalistische Interessen. Dass dabei im Laufe der Zeit zumindest im globalen Norden – die Stadt Frankfurt also eingeschlossen – ein bemerkenswertes Wachstum nicht nur der Produktivkräfte insgesamt, sondern auch des allgemeinen Wohlstands und Wohnkomforts stattgefunden hat, mag bloß ein ›Nebenprodukt‹ der Kapitalverwertung sein – gegen die Interessen der Menschen ist es allerdings nicht.

Gleich im Anschluss verkünden die Autor*innen – investigative Journalisten, die sie sind –, dass ein gesamtes Viertel »den Spekulanten Markiewicz und Rosen « (S. 19) gehöre, nur um dann ebenso enthüllerisch zur Folgerung zu gelangen:

 

»Gewiß ist aber, daß sich hinter den Namen nur die Kapitalinteressen einiger Großbanken und Versicherungen verstecken.« (S. 19)

 

Dabei gerät völlig durcheinander, ob es nun Kapitalinteressen « sind oder Interessen »einiger Großbanken und Versicherungen«, was eben nicht dasselbe ist. Die Autor*innen des Textes jedoch wollen davon nichts wissen und meinen sogar ausdrücklich, dass »die Menschen « von einzelnen Kapitalisten unterdrückt würden. Wenn, so schreiben sie, es »der Aufhebung des Rechtsstaates bedarf, um die Interessen der Bevölkerung gegen die Interessen des Kapitals durchzusetzen, so kann logischerweise [!] dieser Rechtsstaat immer nur das Recht des [!] Kapitalisten meinen.« (S. 19) Diese Gleichsetzung der »Interessen des Kapitals « mit den »Interessen der Kapitalisten« ist bemerkenswert: Damit führen die Autor*innen einen gesellschaftlichen Strukturzusammenhang auf die Gier einer kleinen Gruppe zurück. Wenn die »Interessen des Kapitals « gegen die »Interessen der Menschen« stehen, dann wird suggeriert, dass die ›finsteren Kräfte‹, die da hinter dem Kapital stecken, so ungeheuerlich sind, dass sie mit den ›echten und authentischen Menschen‹ nicht viel zu tun haben. Zwar sei der Kapitalismus »ein gesellschaftlicher, objektiver Zusammenhang« (S. 22), aber weil er Entscheidungsspielraum für einzelne Akteure biete, schließen die Autor*innen, dass letztere »keine Charaktermasken, sondern festmachbare und bespuckbare Individuen « (S. 22) seien. Dass es so etwas wie individuelle ›Entscheidungsspielräume‹ gibt, nehmen die Autor*innen zum Anlass, die Rede vom gesellschaftlichen Zusammenhang gleich wieder zurückzunehmen. Daraus folgt für sie, dass all diejenigen, die im erklärten Kampf ›Spekulanten vs. Bevölkerung‹ auf der falschen Seite stehen, bespuckt und geschlagen werden dürfen, wenn ihnen eine Verantwortung nachgewiesen werden kann.

All diejenigen Figuren im Text, die dem Gesetz des Geldes folgen und mit den »jüdischen Spekulanten« im Bunde sind – der bestechliche Bauausschuss, die klüngelnden Beamten, die Presse etc. – tragen Züge der antisemitischen Erfindung vom Juden: korrupt sei er, Teil einer umfassenden Verschwörung, und seine Existenz stelle eine Bedrohung des eigenen Lebens dar. Gegen all dies, so die Autor*innen, sei Widerstand möglich. Subjekte dieses Widerstands sind natürlich die Ehrlichen, Unbestechlichen, die für das Recht auf das Leben kämpfen und sich dabei an keinerlei kodifiziertes Recht zu halten haben. Um die körperliche Unversehrtheit – oder genauer: um die Bedeutung von erlittener Gewalt – scheren sich die Autor*innen nur hinsichtlich der eigenen Gruppe; die Gewalt, die von den Demonstrant* innen ausgeht, wird durchgehend relativiert. Die Autor*innen schildern etwa, wie Bürgermeister Rudi Arndt in eine Demonstration gelangte: Er »bekam Schläge und wurde ins Gesicht gespuckt« (S. 22). Doch er sei glimpflich davongekommen, »keine Beule hat Rudi Arndt vorzeigen können« (S. 22). Und dies wird noch gelobt als »Verhalten einer Masse«, die sich »dabei nicht von ihren berechtigten Gefühlen übermannen « (S. 22) ließ. Wir können uns leicht vorstellen, welche Gefühle die Masse hatte – dort, wo Schläge als Ausweis von Beherrschung gelten.

So wie die Autor*innen gleich ein ganzes gesellschaftliches Verhältnis auf das böse Interesse einer kleinen Gruppe zurückführen, so erklären sie auch Recht und Staat aus genau diesem Interesse. Damit ist für sie klar, dass die Freiheit und Gleichheit, die das bürgerliche Recht verspricht, nur eine Illusion sind; dass da eine »verdammt ungleiche Freiheit« (S. 19) herrscht. Tatsächlich sind rechtliche Freiheit und Gleichheit aber keine Lüge, sondern durchaus Realität – eine Realität freilich, die gerade die Voraussetzung für das Funktionieren des Kapitalismus schafft. Ökonomische Ungleichheit vollzieht sich gerade unter der Voraussetzung rechtlicher Gleichheit. Rechtliche Freiheit wiederum bedeutet, dass die Lohnarbeiter*innen niemandes Eigentum sind, wie das für feudale Leibeigene der Fall war, und das bedeutet die Befreiung von unmittelbarem Zwang; andererseits besteht für die übergroße Mehrheit der Menschen ein durch die Gesellschaft vermittelter Zwang dazu, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen; nur so können sie sich selbst reproduzieren.

Diese Vermittlung durch das Recht und die Kapitalistische Gesellschaft kann durchaus als zivilisatorischer Fortschritt bezeichnet werden – was natürlich nicht heißt, dass man diesen Fortschritt bedingungslos feiern kann oder sollte, denn er geht einher mit jeder Menge Zwang, Triebverzicht und Herrschaft der Einzelnen über sich selbst und andere. Den Autor*innen des Textes scheint diese Vermittlung jedoch großes Unbehagen zu bereiten. Sie sehnen sich zurück zur Heimeligkeit jener Zeiten, in denen unmittelbare Gewalt noch an der Tagesordnung war. »Von einem Kampf ›Mann gegen Mann‹ kann keine Rede sein«, beschweren sie sich, und rekurrieren damit auf ein archaisches Männlichkeitsbild, demzufolge nur die direkte Konfrontation ehrlich sei. In Verlängerung heißt das: Sind wir genug, können wir Mann gegen Mann den Sieg in diesem Konflikt davontragen – und wenn wir den anderen dafür die Köpfe einschlagen müssen. Die feuchten Träume über Polizisten, die vors Mob-Tribunal geschleift werden, und die Gewaltphantasien gegen Bürgermeister Rudi Arndt (SPD) reihen sich hier nahtlos ein.

Wenn die Rede ist von »handfeste[n] Kapitalinteressen, bei denen das Gesetz des großen Geldes immer vor dem Recht auf Leben kommt« (S. 19) – in dieser Dichotomie zwischen Geld und Leben also wird das Interesse der Bevölkerungsmehrheit als per se emanzipatorisches verklärt. Während die Autor*innen einerseits das Recht so schlicht wie falsch als Unterdrückungsinstrument der Kapitalisten darstellen, entwerfen sie an anderen Stellen die positive Vorstellung eines Rechts, welches mit dem unmittelbaren Gerechtigkeitsempfinden der empörten Bevölkerung in eins fällt. Jenseits wenige, die das kalte Gesetz des Geldes verkörpern und danach entscheiden – diesseits viele, deren Recht auf Leben zu kurz kommt. Diese Figur – das angeblich bedrohte ›Recht auf Leben der Vielen gegen das Gesetz des Geldes der Wenigen‹ – bedeutet die beliebige Ausweitung der legitimen Mittel, die im Überlebenskampf verwendet werden dürfen. Zu besagtem ›Interesse der Bevölkerung‹, das die Autor*innen aufgegriffen und artikuliert wissen wollen, ist noch hinzuzufügen, dass hier eine enorme Leerstelle klafft: kein Wort darüber, dass im Deutschland der 1970er Jahre eher eine Kritik jenes Interesses der Bevölkerung notwendig wäre, denn diese Bevölkerung hatte nur knapp drei Jahrzehnte früher kein anderes Interesse als die Ermordung der europäischen Juden. Statt konstruktiv mit der Absicht der eigenen Mütter und Väter umzugehen, die 1938 schon lebten, müsste es darum gehen, sie zu kritisieren.

 

Antisemiten wollen die Autor*innen des Textes trotz allem nicht sein; mit denen, die »geschickt mit dem Antisemitismus der Bürger und Kleinbürger operieren «, haben sie nichts zu tun. Zu enden wäre daher mit dem Text gegen seine Autor*innen und seinen Inhalt. Eine Untersuchung des Antisemitismus und der Rechtsauffassungen der Siebziger-Linken innerhalb der Häuserkampfszene ist sicherlich undankbar im Hinblick auf die eigenen Mythen, aber sie hätte den »Vorzug, die Situation so einzuschätzen, wie sie ist« (S. 22). Grausam.

 

Christian Sperneac-Wolfer, Felix Lang

 

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