Der 2001 begonnene Umzug der Universität steht kurz vor seinem Abschluss. Maßgebliche Teile der Goetheuniversität werden in wenigen Jahren am Campus Westend angekommen sein – einem Ort, der nicht nur wie in der aktuellen Imageanalyse der Goetheuniversität irgendwie mit dem »Umzug in ,alte‘ Gebäude« assoziiert werden kann, sondern als ehemaliger Standort der Verwaltungszentrale der IG Farben unmittelbar mit deren aktiver Teilnahme an Weltkrieg, Zwangsarbeit und Massenmord im Nationalsozialismus verbunden bleibt. Der angeblich schönste Campus Europas ist wohl auch derjenige, der wie kein anderer mit dem »Zivilisationsbruch« (Dan Diner) zusammenhängt – namentlich mit dem Grauen des Konzentrationslagers Buna/Monowitz (Auschwitz III) .

Das hinderte Uni-Präsident Rudolf Steinberg nicht daran, den IG Farben-Campus bei seiner Eröffnung 2001 zum »Palast des Geistes« auszurufen und damit dessen auftrumpfende Erscheinung bruchlos für die Universität zu beanspruchen. Die unbekümmerte Unschuld, mit der die Goetheuniversität als scheinbar ungebrochener Hort der Aufklärung ihren Einzug als »Teufelsaustreibung« der nationalsozialistischen Vergangenheit feiert, muss einen bitteren Geschmack hinterlassen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass selbstverständlich auch die Goetheuniversität selbst eine solche Vergangenheit hat, die heute keinen mehr so recht zu interessieren scheint. Dagegen wird man – gerade wenn man weiß, wie sehr Wissenschaft mit der nationalsozialistischen Barbarei verbunden war – auf den Unterschied von Aufklärung und Exorzismus beharren müssen.

 

Lässt sich an der neuen Universität am neuen Campus ablesen, wie intellektuelles Arbeiten und akademisches Selbstverständnis immer stärker von ihren kulturindustriellen Bedingungen bestimmt sind und mehr und mehr in den Jargon von Reklame übergehen , so wird im Rückblick auf den Campus Bockenheim deutlich, dass hier aufgegeben wird, was man als den Versuch einer reflexiven Universität bezeichnen könnte: Denn zeitgleich mit dem Umzug werden auffälligerweise genau diejenigen Institutionen und Strukturen aufgegeben und fallengelassen, die einmal die Anstrengung auf sich nehmen wollten, auf Nationalsozialismus und in Barbarei übergegangene Wissenschaft zu reagieren – und das gerade nicht durch Aushängeschilder einer vorbildhaften Aufarbeitung, sondern indem ganz im Sinne einer »Aufklärung, die ein geistiges, kulturelles und gesellschaftliches Klima schafft, das eine Wiederholung nicht zuläßt, ein Klima also, in dem die Motive, die zu dem Grauen geführt haben, einigermaßen bewußt werden« , die Möglichkeit und der Raum für Reflexion institutionell verankert werden sollte.

An drei Beispielen – deren Liste sich gewiss noch erweitern ließe – soll im Folgenden deutlich gemacht werden, dass es hier nicht um schale Nostalgie gehen soll, sondern um einschneidende Veränderungen, an denen die Verschränkung von historischem Bewusstsein und universitärem Alltag deutlich werden.

 

1. Demokratischer Funktionalismus

Mit dem Bockenheimer Campus verbindet sich der Name Ferdinand Kramers, der als Architekt in den fünfziger und sechziger Jahren für den Auf- und Ausbau der Universität verantwortlich war. Von Anfang an schlug dem sachlichen, als »Glattmacher« verschrieenen Kramer das Ressentiment der Frankfurter Bürger entgegen, das sich über die Studierendenbewegung bis zur heutigen Uni-Leitung durchgehalten hat. Dabei halten sich die Bauten Kramers deutlich gegenüber späteren, in ihrer Häßlichkeit aufdringlichen Gebäuden wie der Neuen Mensa, dem Juridicum oder auch dem AfE-Turm als Bockenheimer Markenzeichen zurück und wirken fast schon schüchtern , die Kramer-Bauten sind bei aller Funktionalität von einer Zartheit, die mitunter roh von nachträglichen Eingriffen wie der braunen Verschalung des Hörsaalgebäudes oder dem grotesken türkisenen Sonnenschutz in der Robert-Mayer-Straße zerstört wurde. Diese so leicht übertönte Zurückhaltung ist dabei typisch für den demokratischen Funktionalismus, mit dem der nur widerwillig aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Kramer sich beim Bau der Universität von einer Repräsentationsarchitektur abwandte. Die neue und alte Architektur des Campus Westend, die aus der Trickkiste moderner und postmoderner Fassaden- und Monumentalarchitektur lebt , steht in schroffem Gegensatz zur eben überhaupt nicht rabiaten Haltung Kramers, in der funktionale, politische und ästhetische Momente aufs Engste vermittelt sind.

Am deutlichsten wird das vielleicht am Kramerschen Umbau des Jügel-Haus-Portals: Die enge Tür, einmal das Herzstück der Fassade des schlossartig angelegten urspünglichen Universitätbaus , wurde mit all ihrem wulstigen Ornament und ihrer barocken Herrlichkeit weggerissen und durch einen klar definierten und offenen Haupteingang aus Glas und Stahl ersetzt. Damit reagierte Kramer nicht nur auf eine drastisch steigende Zahl von Studierenden, sondern eben auch darauf, dass nach ihrem Bankrott im Nationalsozialismus der Universität kein Schloss und kein Palast mehr zu bauen sei. Der unangemessenen Selbstherrlichkeit des akademischen Geistes versetzte Kramer mit einem seiner vielleicht schönsten Gebäude – dem Heizkraftwerk – einen weiteren Dämpfer. Dieses legt durch die Verglasung nicht nur seine Funktionsweise offen, sondern überragt mit seinem in die Höhe getriebenen Schornstein weithin den Campus: Ein so offenes Eingeständnis der Abhängigkeit geistiger Arbeit von gesellschaftlicher Produktion, dass also Bildung immer auch als Privileg auf gesellschaftlicher Ungerechtigkeit beruht, sucht man am neuen Campus als dem »Palast des Geistes« vergeblich – vielmehr wäre es eine eigene Analyse wert, als wie demütigend hier die Arbeit von Mensa-, Reinigungs- und Gärtnereipersonal inszeniert wird.

Der Unterschied von Westend und Bockenheim wird noch einmal besonders deutlich an der Kramerschen Universitätsbibliothek – hält man hier das gewünschte Buch Minuten nachdem man aus der U-Bahn gestiegen ist in den Händen, so ist im IG Farben-Haus ein absurder Aufwand von im günstigsten Fall einigen hundert Metern Fußweg und mehreren Aufzugfahrten nötig. All die blauäugige Kritik am Funktionalismus, er richte eindimensional auf Zwecke zu , vergisst die Brutalität von Repräsentationsarchitektur, die sich jedem Bedürfnis vermauert, insofern es nicht gerade auf Identitätsstiftung geht. Eine vollständige Liste der anti-funktionalen Stolperfallen am neuen Campus wäre lang – hier seien als Beispiele nur die Bodenstufe in der schwergängigen, praktisch als Hauptdurchgang dienenden Tür in der Eisenhower-Rotunde, die ungleichmäßigen Abstände der Treppenstufen im Hörsaalzentrum und die umfangstarken tragenden Säulen in der Mitte von Personal-Wegen im RuW-Gebäude genannt. Vielmehr als seine mitunter klinische Reinlichkeit wäre am IG Farben-Campus also zu kritisieren, dass er gnadenlos unpraktisch ist; die Forderung nach Leistungsnachweisen mag steigen, die Bedingungen der für ein Studium nötigen Arbeit werden dabei aber immer schlechter. Ganz im Gegensatz dazu beweist sich die Größe des Kramerschen Funktionalismus nicht durch Repräsentation, sondern praktisch – darin, dass sie sich denjenigen zur Verfügung stellt, die sie nutzten.

All das hat durchaus etwas mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu tun – nämlich damit, wie akademische Bildung im Sinne einer reflexiven Aufklärung zu organisieren sei, die also auch um die Möglichkeit des eigenen Rückfalls in die Barbarei weiß: Denn Kramer nahm der Alma Mater nicht nur ihre selbstherrliche Fassade; seine funktionalistische Haltung hat wesentlich zum Inhalt, der intellektuellen Arbeit der Einzelnen die Entfaltung zu ermöglichen, das heißt also der von den nationalsozialistischen Studierenden im Namen eben des »deutschen Geistes« nicht nur symbolisch verbrannten, sondern auch offen verfolgten »liberalistischen Intelligenz« Raum zu schaffen. Und das verlangt allerdings – gerade wenn man sie jenseits von Effizienz ernst nimmt – auf deren auch funktionale und praktische Bedürfnisse einzugehen.

Der funktionalistische Campus Kramers hat also rein garnichts mit einer monotonen »Denkfabrik« zu schaffen und in der Abkehr von der universitären Selbstherrlichkeit liegt alles andere als eine Geringschätzung von geistiger Arbeit. Vielmehr ist es bezeichnend, was bei der Eröffnung des IG Farben-Campus Roland Koch formulierte, ohne dass irgendjemandem der schreiende Gegensatz zum vom damaligen Präsidenten auf der gleichen Veranstaltung vorgetragenen Geschwafel vom »Palast des Geistes« aufgefallen wäre: Bemerkte Koch zu Recht, dass das IG Farben-Haus ein Verwaltungsgebäude ist – und damit eben für universitäre Zwecke unbrauchbar – kommentierte er dies so: »Aber in gewisser Weise haben eine Universität und ein Verwaltungsgebäude durchaus ja etwas miteinander zu tun. Hier wie dort wird Wissen ›verwaltet‹.« Gerade die selbsherrliche Feier der Vernunft geht also mit deren offener Missachtung einher – wird Denken ungebrochen und entgegen jeder Reflexion als »Geist« hypostasiert, da gibt es sich bereitwillig selbst auf.

In Abgrenzung zur Universität heute also, die es versteht ohne Rücksicht auf Verluste ihren Wert als »etablierte Marke« der Aufklärung zu verteidigen, ließe sich die Haltung Kramers vielleicht pointiert so ausdrücken: Um der Rettung Vernunft willen hieß es, ihr keinen Palast, sondern selbst vernünftig zu bauen.

 

2. Studentische Öffentlichkeit

Das Studierendenhaus am Campus Bockenheim ist mit seiner Größe und der zentralen Lage durchaus eine Besonderheit und wahrscheinlich das einzige dieser Art in Deutschland. Das ist kein Zufall, wurde es doch, finanziert von einer amerikanischen Stiftung, 1953 in unmittelbarer Reaktion auf den Nationalsozialismus eingeweiht. Grund dafür war die Idee, dass, wenn die deutschen Studierenden irgendwie zur Demokratie befähigt werden sollen, man ihnen einen Raum für politische Öffentlichkeit geben muss.

Es spricht Bände, dass ein Studierendenhaus am neuen Campus nicht oder erst im letzten Bauabschnitt geplant ist und dann im hintersten und entlegensten Teil des Campus liegen wird. Wer sich am IG Farben-Campus bewegt weiß, dass eine studentische Öffentlichkeit dort quasi systematisch verhindert, jedenfalls marginalisiert wird und sich folglich kaum findet. Die universitäre Kultur 2012 bezieht sich offensichtlich auf Studierende nicht mehr als politische Subjekte öffentlicher Diskussion, sondern setzt im Namen der Diversity auf Minderheitenverwaltung. Deutlicher Ausdruck davon ist, dass statt eines Studierendenhauses als allererstes ein »interkultureller Begegnungsraum« mit dem bezeichnenden Namen »Haus der Stille« eingerichtet wurde: Ein ökumenischer Gebetsraum mit der Möglichkeit zur Geschlechtertrennung – zur Begegnung im gegenseitigen Anschweigen.

Das Studierendenhaus war und ist dagegen davon getragen, dass Debatte, Diskussion und Auseinandersetzung nicht einfach behauptet werden können, sondern eigene Voraussetzungen haben zu denen auch Zeit und Raum gehören. Öffentlichkeit als der Rahmen einer der Idee nach die Autonomie aller Beteiligten auch im Konflikt aushaltenden Verständigung, in dem sich politische Reflexivität einstellen könnte, ist dabei aber grundverschieden vom kampagnenförmigen Dialog, der friedfertige Wesensschau und repressive Toleranz verordnet. Pluralismus als Konzept ist nur dann sinnvoll, wenn er nicht nur beworben und verwaltet wird, sondern wenn es einen Rahmen gibt, indem die Differenzen ausgetragen und auch ausgehalten werden können.

Bei der Forderung nach einem Studierendenhaus, das kann nicht genügend herausgestrichen werden, geht es um ein Herzstück einer Universität, die sich nicht nur abstrakt und mit abgestandenem Pathos aufklärerischen Formeln verschreibt, sondern in der die Möglichkeit von Reflexion und Öffentlichkeit Teil des Alltags ist. Das macht allerdings einen studentisch selbstverwalteten Raum notwendig, der sich sowohl von universitärem Marketing als auch von akademischer Öffentlichkeit unterscheidet, an denen Studierende bekanntermaßen nur eingeschränkt teilnehmen können.

 

3. Psychoanalyse

Wer ein wenig mit der sogenannten Frankfurter Schule vertraut ist, wird wissen, wie wichtig ihr die Psychoanalyse war und zwar vor allem auch in Bezug auf den Umgang mit dem Fortleben des Nationalsozialismus in der postnazistischen Demokratie. So meinte Adorno, dass dessen Überwindung wesentlich davon mit abhänge, inwieweit sich in Deutschland die Psychoanalyse und damit eine der Reflexion und der Einsicht in die Bedingtheit von Subjektivität günstige Wissenschaft etablieren könne. Horkheimer und Adorno, von denen die Frankfurter Universität in den fünfziger und sechziger Jahren ja maßgeblich mitgeprägt wurde, suchten deshalb unter anderem die Nähe zu Alexander Mitscherlich, dem Gründer des Sigmund-Freud-Instituts, der außerdem auch intensiv zur aktiven Teilnahme von Akademikern – den Medizinern – am Nationalsozialismus gearbeitet und publiziert hatte. Daraufhin bekam Mitscherlich einen Lehrstuhl an der Universität, aus dem sich schließlich mit dem Institut für Psychoanalyse das einzige seiner Art in Deutschland entwickelte. Auch das, der Versuch die Psychoanalyse akademisch zu etablieren, war ein von Frankfurt ausgehender Versuch, einen institutionell verankerten Rahmen für reflexive intellektuelle Arbeit in der postnazistischen Gesellschaft zu schaffen. Damit war vor allem auch die Eigenständigkeit gegenüber der Psychologie und die Offenheit gegenüber anderen, nicht therapeutisch angelegten Disziplinen verbunden. Vor allem einer reflexiven und subjektorientierten Sozial- und Erziehungswissenschaft sollte die Psychoanalyse wichtige Impulse geben.

Seit einiger Zeit ist das Institut für Psychoanalyse allerdings auf einen Arbeitsbereich zusammengestrichen und der Psychologie eingegliedert; alle Studiengänge, die eine Interdisziplinarität möglich machen sollten, laufen aus. Damit wird die Psychoanalyse ins individualtherapeutische Feld zurückgenommen und der Anspruch kassiert, eine reflexive Wissenschaft an der Universität zu institutionalisieren.

 

An der Akademie gegen die Akademie studieren

Das sind an dieser Stelle nur drei Beispiele, die freilich nicht einfach nur aus der – hier passt der etwas altbackene Ausdruck einmal – Geschichtsvergessenheit der Frankfurter Universität abzuleiten sind. Im weiteren Zusammenhang wäre nicht nur auf die spezifische erinnerungspolitische Formation der Berliner Republik zu verweisen, sondern auch auf so verschiedene Entwicklungen wie den durch den Bologna-Prozess veränderten Stellenwert der Universitäten, den fortschreitenden Zerfall von Öffentlichkeit, die Aushöhlung der Psychoanalyse als kritischer Wissenschaft wie auch stadtpolitisch eine Wende zugunsten einer Architektur des postmodern-restaurativen Heimatgefühls . Wäre aber Reflexivität und die Institutionalisierung der Möglichkeiten zur Reflexion die Bedingung für eine Aufklärung, die nicht einfach über die eigene Teilhabe an der Barbarei hinweggeht, dann gilt es auch zu erkennen, dass nicht bloßer Widerwille gegen die bessere Einsicht das Problem darstellt, sondern die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Reflexion immer weiter abgeschliffen werden.

Das heißt auch: Sind die einzelnen Wissenschaftler zwar durchaus für den gequirlten Schwachsinn verantwortlich zu machen, den man sich mitunter von ihnen anhören muss, so kann man ihnen doch nicht vorwerfen, dass dieser Schwachsinn noch als Wissenschaft gilt, solange die Definition hierüber sich statt an Wahrheit, institutionell eher an der Anzahl der (allzuoft ungelesenen) Publikationen und den akademischen Klüngeln orientiert. Ähnlich gilt für den gegenwärtigen Zustand der Universität, dass man ihn nicht der mangelnden Aufrichtigkeit ihrer Repräsentanten in Präsidium und der Abteilung Marketing und Kommunikation zur Last legen kann; deren Zynismus mag zwar alles noch verschlimmern, er bringt aber auch auf den Punkt was vom Anpruch bürgerlicher Bildung geblieben ist, wo das Bürgertum mehr und mehr auf die bloße Sachzwangverwaltung herunterkommt. An der Universität, die nach gesellschaftlicher Arbeitsteilung Erkenntnisse und hochqualifizierte Arbeitskräfte produzieren soll, wird schlagend deutlich, wozu Ideologie, das heißt gesellschaftlich notwendig falsches Bewusstsein, heute tendiert – zum Zynismus, der garnicht mehr verlangt, dass man ihn ernst nimmt.

Am IG Farben-Campus stellt sich mit besonderer Schärfe das Problem, dass gesellschaftlich die Bedingungen für Reflexivität immer weiter ausgehöhlt werden: In dem Moment, in dem dieses Haus der Täter zum schönsten Campus Europas ausgerufen wird, werden gerade diejenigen Institutionen aufgegeben, abgebaut und abgerissen, die einmal der Versuch waren, auf das Scheitern der Universität im Nationalsozialismus zu reagieren und Strukturen für eine an der Autonomie der Einzelnen orientierte reflexive und kritische Wissenschaft in der postnazistischen Gesellschaft bereitzustellen. Dieser Versuch muss als abgebrochen gelten.

 

Mit der Schließung und Räumung des Instituts für vergleichende Irrelevanz geht eine Insel verloren, die wenigstens für einen gewissen Zeitraum noch an Strukturen festhalten konnte, die Reflexion ermöglichen. Nicht umsonst hatte das IvI als Motto: »Kritisches Denken braucht – und nimmt sich – Zeit und Raum.« Nicht nur diese grundlegenden Bedingungen für Reflexion werden immer prekärer, sondern mit ihnen droht auch der Verlust eines Denkens, das zum Eingeständnis der eigenen Bedingtheit überhaupt noch in der Lage ist und nicht von vornherein die Fanfaren der Exzellenz vor sich herzutragen braucht.

Verschlechtern sich die institutionellen Bedingungen, dann bleibt wenig übrig, als dass Kritik selbst einen neoliberalen Zug annimmt: Die Verantwortung für reflexive und das heißt eben auch historisch bewusste Wissenschaft und intellektuelle Arbeit liegt einmal mehr bei den Subjekten. Davor bewahrt aber ohnehin kein institutioneller Rahmen, denn ohne Frage ist Reflexivität – ebenso Mündigkeit oder Kritik – nichts, was objektiv je »bereitgestellt« oder »geliefert« werden könnte, sondern notwendig Subjektives. Sowenig aber der institutionelle Rahmen und seine Voraussetzungen zu hypostasieren sind, so wenig ist es das Subjekt als ihr Gegenpol: Reflexivität ist wesentlich dadurch bestimmt, dass die Bedingungen und Begrenzungen des eigenen Denkens und Handelns bewusst gemacht werden. Die Aporie, vor der intellektuelle Arbeit nicht nur an der Universität heute steht, ist die, dass sich Reflexivität unter Bedingungen beweisen muss, die gerade die Möglichkeiten zur Reflexion immer weiter einschränken.

 

Johannes Rhein, Initiative Studierender am IG Farben-Campus

Erstmals erschienen in: Wahlzeitung der Linken Liste (Januar 2012);sowie in leicht überarbeiteter Fassung in AStA-Zeitung FFM (01/2012).

 

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