1. Gefahr im Verzug

Im Jahr seines 50. Jubiläums steht der Mai 1968 so massiv unter Druck wie nie zuvor. Nicht zufällig stammen die härtesten Angriffe zugleich aus der Popularen Rechten und aus der Alten Linken. Nach Lage der Dinge bleibt uns in dieser Gemengelage nur die Reflexion auf die eigene Ohnmacht. Darum soll es hier gehen.

Um Missverständnisse zu vermeiden sei festgehalten, dass der politische Name Mai 1968 nicht nur die Pariser Ereignisse dieses Monats, sondern eine ganze Epoche benennt. Sie beginnt in den 1950er Jahren mit der Algerischen und der Kubanischen Revolution, und sie bricht gegen Ende der 1980er Jahre mit den emanzipatorischen Momenten der Massenbewegungen ab, die den Einsturz der Realsozialismen vollenden.

 

2. Nicht ganz auf verlorenem Posten

Wenn wir darin nicht ganz auf verlorenem Posten stehen, dann weil die gegenwärtige Weltordnung extrem unbeständig ist. Zu danken ist das weniger den Kräften des Widerstands als der weltgeschichtlichen Drift des Kapitalismus, der in seiner Nötigung zur Selbstverwertung des Werts nichts ist, wenn er nicht in Bewegung ist (vgl. Harvey 2011: 23). Er ist folglich zugleich ein Regime der Ausbeutung, Vernutzung und Verwüstung allen Lebens wie ein Regime seiner Freisetzung aus überkommenen Grenzen. Weil das so ist, ermöglicht er fortlaufend neue Prozesse der Emanzipation: Prozesse also, die das aus seiner Unterwerfung freigesetzte Leben herausfordern, bloße Freisetzung in Selbstbefreiung zu verwandeln.

 

3. Globalisierung und Proletarisierung

Als Bewegung der Grenzüberschreitung lässt sich das Regime des Kapitals primär in Prozessbegriffen fassen, deren erster fraglos die Globalisierung ist. Weil der Grundzug kapitalistischer Globalisierung stets darauf zielt, »Arbeitskräfte ›frei‹ zu machen und zur Arbeit für das Kapital zu zwingen«, fällt der Prozess der Globalisierung mit dem der Proletarisierung zusammen (Luxemburg 1975: 317). Zu dem gehörten nie nur die Industriearbeiter_innen, sondern klassenübergreifend alle, die dem Kapital jeweils gegen einander ihre Arbeitskraft anbieten müssen, um überleben zu können. Das schließt heute die rasant wachsenden Massen derer ein, deren Arbeitskraft nur befristet oder gar nicht mehr nachgefragt wird. Derart gegeneinander gestellt, fanden und finden die Verdammten dieser Erde wenn überhaupt, dann nur sehr schwer zueinander. Hatte Marx das schon geahnt, als er den Begriff der Arbeiteraristokratie prägte, wurden seine Befürchtungen dem Mai 1968 zur strategischen Gewissheit (Marx 1973: 697). Darum haben dessen radikalsten Protagonist_innen auch und gerade die internationale Solidarität zur Sache einer damals neuen Form zugleich der Ethik und der Politik erhoben: zur Sache von »Politiken in erster Person«. Sie heißen so, weil in ihnen jeder und jede mit dem eigenen Begehren den Anfang machen muss, ohne vom objektiven Interesse eines ›an sich‹ gegebenen Kollektivs gedeckt zu sein.

 

4. Individualisierung und Mediokrisierung

Nicht zuletzt deshalb aber lässt sich die existenzielle Dimension der Globalisierung durch Proletarisierung im Prozessbegriff der Individualisierung fassen, der damit zum maßgeblichen Problembegriff politischen Philosophierens wird. Lenin greift dabei schon 1920 auf eine Krise voraus, die erst in unserer Zeit voll zum Austrag kommt:

Theoretisch gilt es für Marxisten als durchaus feststehend und durch die Erfahrungen aller europäischen Revolutionen und revolutionären Bewegungen vollauf bestätigt, dass der Kleineigentümer, der Kleinbesitzer (ein sozialer Typus, der in vielen europäischen Ländern sehr weit, ja massenhaft verbreitet ist), weil er unter dem Kapitalismus ständiger Unterdrückung und sehr oft einer unglaublich krassen und raschen Verschlechterung der Lebenshaltung und dem Ruin ausgesetzt ist, leicht in extremen Revolutionarismus verfällt, aber nicht fähig ist, Ausdauer, Organisiertheit, Disziplin und Standhaftigkeit an den Tag zu legen (Lenin 1955: 679f.).

 

5. Politik in erster Person

Der in den Politiken erster Person realisierte Fortschritt des Mai 1968 liegt darin, Lenins Analyse zwar anerkannt, doch strategisch umgekehrt zu haben. Sie wurde so zum Ausgangspunkt eines Linksradikalismus, der sich zu Recht nicht mehr als »Kinderkrankheit«, sondern als »Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus« verstand (vgl. Cohn-Benedit 1968). Deshalb variieren die verschiedenen Strömungen der Neuen Linken einen Revolutionsbegriff, in dem »die autonome Emanzipation der Individuen die einzige Grundlage der klassenlosen Gesellschaft« ist (vgl. Vaneigem 1975). Will man diese Drehung ums Ganze verstehen, muss zuvor gesehen werden, dass und wie die Lebensform der proletarisierten Kleineigentümer_innen nach dem 2. Weltkrieg zur vorherrschenden Lebensform aller modernen Gesellschaften wurde, auch der realsozialistischen und postkolonialen. Und: Es muss gesehen werden, dass dieser Lebensweise eine historisch unvergleichliche Befreiungserfahrung einwohnt – die Erfahrung, fortschreitend aus allen überkommenen Bindungen freigesetzt und so überhaupt erst auf sich allein vereinzelt zu werden. Im Kapitalverhältnis zu leben heißt, vom Boden ent-bunden, also wortwörtlich ent-wurzelt zu sein. Es heißt, aus der boden-ständigen Vergesellschaftung in Stamm, Sippe, Familie, im selben Zug aber aus Gilde, Zunft und Innung, damit aber auch aus den überkommenen ›Ständen‹ nicht nur des Berufs, sondern überhaupt jeder Herkunft herausgelöst zu werden. Die derart auf sich allein gestellten ›Freigelassenen‹ werden dann in neue, vergleichsweise abstrakte und hochgradig vermachtete Zugehörigkeiten versetzt: in die Zugehörigkeit zu Masse und Klasse, in die Konkurrenz um Arbeit, Einkommen, Güter und die über sie vermittelte Anerkennung, in das anonyme, ausnahmslos alle formell gleichsetzende Regiertwerden durch Staat, Recht und Disziplin. Natürlich geschieht das alles weder zwang- noch schmerzlos. Doch wird die Freisetzung in den Nicht-Stand der Arbeiter_innen/Bürger_innen stets auch als Entlassung in eine bisher ungekannte Freiheit – und damit in die bis dahin nahezu unvorstellbare Vereinzelung der Freiheit erfahren: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen«, notieren Marx und Engels in einer längeren, von unverhohlener Begeisterung getragenen Passage des KommunistischenManifests (MEW 4: 465; vgl. auch ebd.: 464ff.). Es ist diese Erfahrung, die im Mai 1968 ethisch und politisch leitend und in der Neuen Linken deshalb auch politisches Projekt wird: Politik in erster Person.

5.1

Ihre eigene Höhe hält die Dialektik von Freilassung und Selbstbefreiung aber nur, wenn sie sich der problematischen Konstitution der ihr zugrundeliegenden Lebens- und Politikform bewusst bleibt. Denn gerade weil sich der Emanzipationsfortschritt des Mai 1968 im neoliberalen Übergang vom Fordismus zum Postfordismus gesellschaftlich vertieft und verbreitert hat, wurde er zugleich überall von dem Umschlag in »Unterwürfigkeit, Apathie und Phantasterei« eingeholt, von dem Lenin spricht (Lenin 1955: 479f.). Deshalb muss der Prozess- und Problembegriff der Individualisierung immanent mit dem der Mediokrisierung, der Vermittelmäßigung, verbunden werden. Mit ihm wird gesagt, dass uns die Individualisierung nicht zu unverwechselbaren, in sich ruhenden und darin autonomen Individuen macht, weil sie uns in eine angstdurchherrschte Konkurrenz zwingt, in der Jede und Jeder von uns das eigene Verhalten am Verhalten des jeweils Anderen abmessen muss – genauer noch: am Durchschnitt des Verhaltens aller anderen.

5.2

Klassenanalytisch wird das in dem heute politisch ausschlaggebenden Faktum fassbar, dass die kulturelle Sogwirkung der globalen Mittelklassen auch und gerade die Milliarden erfasst, die politökonomisch keine Chance haben, ihr zuzugehören. Weil sich die Ausgeschlossenen diesem Schicksal durch Migration zu entziehen suchen, dürfen die Angst und das rassistische Ressentiment der Einheimischen eben nicht nur als Angst vor dem Abstieg in der eigenen Gesellschaft angesehen werden. Sie sind vielmehr die Reaktion der Proletarisierten des Nordens auf ihre Bedrohung durch die Proletarisierten des Südens: ihr Tritt nach noch weiter unten.

 

6. Herrschaft und Knechtschaft

Genau an dieser Stelle gewinnt der Mai 1968 die Aktualität, an der sich die rechtspopulistischen wie die altlinken Angriffe eigentlich entzünden. Denn die Frage nach der Angst, die das Ressentiment vorantreibt, führt auf die im Beginn der modernen Emanzipations- und Revolutionsgeschichte schon einmal leitende Frage nach der freiwilligen Knechtschaft zurück. Sie wurde im Mai von der Neuen Linken aus ihrer Verdrängung durch den marxistischen Klassenoptimismus zurückgeholt: Deleuze und Guattari haben sie damals sogar zur »grundlegenden Frage der politischen Philosophie« erhoben (Deleuze und Guattari 1974: 39). Der für das Denken des Mai 1968 und praktisch auch für die Mai-Bewegungen leitende Verdacht, der in der freiwilligen Knechtschaft den individuell wie kollektiv bestimmenden Grund für den Umschlag von Individualisierung in Mediokrisierung erkennt, findet seinen theoretischen Anhalt in den zehn Seiten der Phänomenologie des Geistes, in denen Hegel die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft entwarf (vgl. Hegel 1970: 145ff.). Natürlich bezog sich die Neue Linke dabei immer schon auch auf Hegels Kritiker_innen, allen voran auf Marx und Nietzsche. Sie bezog sich damit auf die bis zum Mai eher untergründig wirkende Tiefengeschichte der politischen Philosophie der Moderne, in der Hegel, Marx und Nietzsche in einen eigentlich unmöglichen Trialog verstrickt werden. Nach der praktischen Seite entsprach dem die anfangs ebenfalls eher unmögliche Vermittlung von Sozial- und Künstler_innenkritik, in der die zugleich sozial- und kulturrevolutionäre Ausrichtung der Neuen Linken und der Neuen Sozialen Bewegung lag (vgl. Boltanski und Chiapello 2006: 80f., 466ff., 475f.).

Dabei entspricht das von Boltanski und Chiapello geprägte Begriffsdoppel von Sozial- und Künstler_innenkritik zumindest im Ansatz dem in den jüngeren Strategiedebatten der Linken leitenden Begriffsdoppel von Klassen- und Identitätspolitik: mit dem fundamentalen Unterschied allerdings, das von den 1950ern bis zu den 1980ern eher zusammengeführt werden sollte, was heute nicht wenige wieder trennen wollen. Unproblematisch ist daran die Übersetzung von Sozialkritik in Klassenpolitik: beide Begriffe meinen im Kern dasselbe. Schwieriger ist die Übersetzung der Künstler_innenkritiken in das, was heute (gleich, ob positiv oder negativ) unter Identitätspolitik verstanden wird. Dies liegt daran, dass Künstler_innenkritiken auch und gerade da, wo sie sich feministisch oder antirassistisch artikulieren, gerade keine Identitätspolitiken waren und sind, sondern Politiken der Ent-Identifizierung, der Ent-Bindung aus gesellschaftlichen Zuschreibungen, deren existenzieller Vollzug Freilassung erst in Selbstbefreiung verkehrt.

6.1

Die trialogisch entfaltete Dialektik von Herr und Knecht kann hier nur grob umrissen werden. Hegel setzt ihr die freiwillige Knechtschaft voraus: Alle Geschichte ist eine Geschichte von Herrschaft und Knechtschaft, weil an ihrem Beginn ein auf Leben und Tod geführter Kampf stand, in dem Herrschaft und Knechtschaft überhaupt erst zu den Grundpositionen aller späteren gesellschaftlichen Verhältnisse wurden. Eröffnet wurde dieser Kampf als ein Kampf um die gegenseitige Anerkennung des Status eines freien Wesens. Auf Leben und Tod wurde er geführt, weil die Kämpfenden im Wagnis des Todes voreinander den Beweis erbringen wollten, ein selbstbewusstes Subjekt, das heißt mehr als nur ein von seinem Selbsterhaltungstrieb beherrschtes Lebewesen zu sein. Zum Kampf um Herrschaft und Knechtschaft wurde dieser Kampf allerdings erst mit dem Akt der Unterwerfung, in dem der eine der beiden Kämpfenden aus Angst um sein Überleben dem Wagnis des Todes auswich und sich so – gleichsam freien Willens – zum Knecht des anderen gemacht hat. Weil die Knechte und Mägde in den Jahrtausenden der ihnen abgepressten Arbeit dann aber lernen, die eigene und mit der eigenen alle Natur frei zu nutzen, endet diese Geschichte – das ist die Dialektik – mit ihrem Sieg. Marx teilt Hegels Perspektive, schiebt das von Hegel auf die Französische Revolution datierte Ende der Geschichte aber bis zur proletarischen Weltrevolution auf, das heißt bis zur Abschaffung aller Klassifikation von Menschen durch Menschen.

Für Nietzsche haben Hegel und Marx damit zwar die Moral des Sklavenaufstands auf den Punkt gebracht, doch gerade keine Geschichte der Freiheit geschrieben (vgl. Nietzsche 1999). Ihm sind die modernen Gesellschaften der freigesetzten Arbeitskraft deshalb nichts als proletaro-bourgeoise Gesellschaften von Knechten-und-Mägden-ohne-Herr_innen, deren Paradigma die um den Preis der freiwilligen Knechtschaft errungene innere wie äußere Naturbeherrschung ist. Gezahlt wird dieser Preis in der Arbeit wie in der Moral, im Recht und natürlich im Glauben wie im Wissen. Gezahlt wird er aber auch mit der Verhaftung an die existenzielle Angst um Leben und Tod, an die »Furcht des Todes«, in der schon Hegel den »absoluten Herrn« erkannt hatte, der alles Selbstbewusstsein durchherrscht: das der Knechte und Mägde und das der Herr_innen (vgl Hegel 1970: 153).

6.2

Die Neue Linke setzt diesen Trialog mit ihren negativen Dialektiken fort. Negativ-dialektisch verstehen sich deshalb auch die neu-linken Politiken in erster Person, die Sozial- und Künstler_innenkritik im jeweils existenziellen Akt der Ent-Bindung aus freiwilliger Knechtschaft zusammenführen. Sie werden deshalb nicht mehr nur auf den Schlachtfeldern der politischen Ökonomie und nicht mehr nur in den Staatsapparaten, sondern alltäglich an jeder eminenten Station der Vermittlung von Individuum und Gesellschaft ausgetragen.

Weil der Emanzipation aus dem proletaro-bourgeoisen Selbst- und Weltverhältnis dabei ein relativer Primat vor der Emanzipation aus Herrschaft und Ausbeutung zukam, verfingen sich nicht wenige dieser Politiken dann aber auch von sich aus in ihrer neoliberalen Absorption. Aus der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft reflektiert, ist die Angst vor dem konkurrenzbedingten Abstieg deshalb nicht nur Angst vor den Anderen der Globalisierung. Sie ist auch und noch immer die Angst, die in der Flucht vor dem Wagnis des Todes schon den ersten Akt freiwilliger Knechtschaft antrieb und heute in ganz eigener Form die Knechte-und-Mägde-ohne-Herr_innen antreibt: auch uns.

 

7. Ohnmacht und Unknechtschaft

Wird unsere Ohnmacht in der Reflexion auf das Erbe des Mai 1968 verständlich, dann hängt ihr Gelingen an der Herausforderung, die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft seither nur noch als negative angehen zu können. Dabei liegt ihre Negativität im Widerspruch zwischen der logischen Verpflichtung aller Emanzipation auf ihre tatsächlich universelle, das heißt ausnahmslos alle einschließende Globalisierung und der uns radikal individualisierenden Skepsis an der empirischen Möglichkeit einer solchen Globalisierung der Emanzipation, die aus der Fortdauer der freiwilligen Knechtschaft resultiert. Wenn dieser Widerspruch bis auf weiteres nicht aufzuheben ist, dann weil aus emanzipatorischer Position keine seiner beiden Seiten aufgegeben werden darf: die Globalisierung der Emanzipation so wenig wie die uns auf uns selbst verweisende Skepsis. Zu bearbeiten ist dieser Widerspruch deshalb auch heute nur in Politiken in erster Person, deren Bedingung wie deren Ziel die je eigene Ent-Bindung aus der freiwilligen Knechtschaft, damit aber die Bereitschaft zum Ausstehen der Angst ist, die immer neu zur Selbstverknechtung führt. Sie heute in die Debatte zurückzuholen, ergibt sich nicht nur aus dem Widerstand gegen die angstgetriebene Rechtsdrift proletaro-bourgeoiser Kleineigentümer_innen. Sie ergibt sich auch aus der Möglichkeit, von der Angst her zugleich die beiden Korruptionsformen zu kritisieren, an denen die neoliberale Absorption der historischen Politiken in erster Person ansetzen konnte. Dabei kann die erste als eine knechtische, die zweite als eine herrische Form der Korruption verstanden werden.

Die knechtische Korruption reduziert die Politik in erster Person auf ihren wortwörtlichen Sinn, d.h. auf eine Politik, der es allein um die eigene Person geht. In ihre Selbstsucht eingehaust, schränkt sie ihr ursprüngliches Emanzipationsbegehren nur scheinbar paradox auf die Angebote ein, die ihr das herrschende System der Bedürfnisse bereitstellt.

Die herrische Korruption funktioniert auf den ersten Blick genau umgekehrt und steigert die Politik der ersten Person in eine heroische Überspannung und Verausgabung, die – ein Missverständnis wiederum der Wortwörtlichkeit – auf Alles oder Nichts, auf Leben und Tod ausgeht. Weil der politischen Existenz mit dem Sturz in die Angst nur noch das Selbstopfer ihres Lebewesens übrig bleibt, führt auch er in vielen Fällen in die freiwillige Knechtschaft zurück.

7.1

Der dialektische Witz der heute uns vorbehaltenen Selbstkritik der Angst liegt dann aber in der Einsicht, dass sich Politiken in erster Person der doppelten Gefahr ihrer Korruption gar nicht entziehen können. Stattdessen bildet diese Gefahr gerade das Wagnis, das eingegangen werden muss, wenn Politiken erster Person die Funktion der Entunterwerfung erfüllen wollen, mit der sie, wie Foucault sagt, zur »Kunst der freiwilligen Unknechtschaft« werden (Foucault 1992: 15). Im Verhältnis zum Widerspruch zwischen der logischen Verpflichtung zur Globalisierung der Emanzipation und der empirischen Skepsis gegenüber ihrer Möglichkeit heißt das, in eigener Person den Versuch zu unternehmen, den Skeptizismus zu vollbringen, um in der Überschreitung seiner Grenzen mit der Emanzipation vielleicht andere Erfahrungen zu machen (vgl. Hegel 1970: 72). Dem Ressentiment der Knechte-und-Mägde-ohne-Herr_innen dabei, und sei’s bloß taktisch, auch nur einen Fußbreit entgegenzukommen, hieße dann aber, der Probe des Skeptizismus und damit der Angst auszuweichen.

 

8. Folgerungen

8.1 Wenn die Negativität der Dialektik darin liegt, den Gang in den Widerspruch immer neu antreten zu müssen, dann weil sie nur so die ihr vorausgesetzte These bewähren kann, nach der sie ihr eigenes Subjekt in den proletaro-bourgeoisen Individualisierten der Globalisierung finden wird, also in den Knechten-und-Mägden-ohne-Herr_innen, zu denen auch wir gehören.

8.2 Philosophisch heißt das, den eigentlich unmöglichen Trialog zwischen Hegel, Marx und Nietzsche immer neu in seine Extreme zu treiben. Politisch heißt das, die moderne Emanzipations- und Revolutionsgeschichte fortzusetzen, die in der Revolution des Menschenrechts den Gesellschaftsvertrag setzt, der seine Subjekte je gegenseitig zur Anerkennung der Gleichheit in der Freiheit herausfordert.

8.3 Politiken in erster Person stehen der dazu unumgänglichen Bildung kollektiver Assoziationen nicht im Weg, im Gegenteil. Tatsächlich bezeichnet die Wendung in erster Person nur die Art und Weise der Zugehörigkeit politisch Existierender zu diesen Assoziationen.

8.4 Weil die uns vorausgesetzte Ohnmacht im Letzten darin liegt, die Aufhebung des Widerspruchs negativer Dialektik nicht direkt, sondern immer nur im Gang in den Widerspruch selbst wagen zu können, steht dem Begriff der Assoziation in der Neuen Linken der Begriff des Ereignisses zur Seite. Genau besehen besagt er nur, dass die Befreiung aus der Ohnmacht immer auch eine Gabe ist, die einem unvermutet dargeboten wird.

8.5 Die Funktion der Entunterwerfung liegt darin, uns dem Ereignis so weit zu öffnen, dass wir ihm zu seiner Zeit augenblicklich entsprechen können.

 

Thomas Seibert

www.thomasseibert.de

 

*.lit

Badiou, Alian (2003): Über Metapolitik. Zürich und Berlin.

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