Der folgende Text ist ein Werkstattbericht. Er geht aus der Arbeit einer Initiative hervor, die auch zwei Jahre nach ihrer Gründung noch vorsichtig suchend erste Schritte geht. Von einem Selbstverständnis, wie es andere politisch arbeitende Gruppen für sich formulieren, sind wir weit entfernt, jedoch könnte dies als ein erster Versuch in diese Richtung gelten. Sicher ist uns bisher bloß der programmatische Name – Keine Privatangelegenheit – und die zugrundeliegende Auffassung, dass psychische Krisen Einzelner eine gesellschaftliche Dimension haben. Die Motivation, sich in einer ver_rückten Bande mit anderen zusammenzuschließen, rührte für jede_n von uns von ganz unterschiedlicher Stelle. Manche wünschten sich, theoretisch zu arbeiten und akademische Kritik am Psy-Komplex zu üben; andere suchten in diesem Projekt eher eine Möglichkeit des radical peer support, der Vergemeinschaftung und des solidarischen Austausches über Krisen- und Therapieerfahrungen. Gleichsam einen Bogen zwischen diesen unterschiedlichen Ansprüchen spannend schlugen wieder andere vor, in einer Art partizipativer Aktionsforschung Ansätze der kritischen Selbsterfahrung und Selbsthilfe zu entwickeln und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Noch andere wünschten sich ganz praktische und konkrete politische Arbeit in Form von Stadtteilarbeit, Öffentlichkeitsarbeit und so weiter. Gemeinsam war uns am ehesten der Wunsch und der Anspruch, eine alternative Form des Sich-in-Beziehung-Setzens aufzuspüren, die, von Solidarität getragen, Raum für Verletzlichkeiten schaffen würde, und diese möglichst auch zur Grundlage unserer Treffen zu machen. Umgekehrt ist jedoch auch politische Arbeit nicht nur Selbstermächtigung, sondern zugleich Ohnmachtserfahrung – zum einen weil sie uns die Übermacht der gesellschaftlichen Verhältnisse erleben lässt, zum anderen weil sich auch dort allzu oft gesellschaftliche Unterdrückungsverhältnisse fortsetzen. So sind auch politische Räume weder von Diskriminierung und Übergriffen noch von Leistungsdruck und überfordernden Ansprüchen befreit.

 

Unsere Praxis

Um den eingangs genannten, so unterschiedlichen Ansprüchen an die Gruppe gerecht zu werden, entschieden wir uns, zwei verschiedene Arten von Treffen zu etablieren: Wir organisieren erstens Peer-Support-Treffen, bei denen es uns vorwiegend darum geht, persönliche Erfahrungen zu teilen und einander Unterstützung zu geben, wobei es unser Anliegen ist, die gesellschaftlichen Verhältnisse in unsere Deutungen miteinzubeziehen. Zweitens gibt es Reflexionstreffen, in denen wir uns theoretisch mit Psychiatrie(-kritik) und den politischen Dimensionen unserer Organisation auseinandersetzen. Diese beiden Arten von Treffen stehen in keinem hierarchischen Verhältnis zueinander, sondern als unterschiedliche Formen politischer Organisierung nebeneinander. Die Peer-Support-Treffen finden zweimal im Monat statt und unterliegen immer einer ähnlichen Struktur. Gerahmt wird das Treffen von einer Eingangs- und einer Ausgangsrunde. In der Eingangsrunde können alle Personen, die das möchten, darüber sprechen, wie es ihnen geht, was sie aktuell beschäftigt und worüber sie beim heutigen Treffen gerne reden möchten. Thema der Ausgangsrunde ist dann, wie es uns nach dem Treffen geht und wie wir uns während des Treffens gefühlt haben: Was hat gut getan? Hat etwas anderes traurig gemacht oder war schwer auszuhalten? Die Reihenfolge, in der wir dabei sprechen, ist nicht festgelegt, da wir keinen Druck erzeugen wollen, und den anderen zuhören möchten, ohne dabei fortwährend über unseren eigenen Beitrag nachzudenken.

Für die Zeit zwischen der Eingangs- und der Ausgangsrunde gibt es keine feste Form, nach der unsere Treffen ablaufen. Immer geht es jedoch darum, dass Personen von ihren eigenen Erfahrungen oder gar einem konkreten Problem berichten und darüber ein Austausch in der Gruppe entsteht. Es werden Nachfragen gestellt und meistens teilen weitere Personen ihre eigenen Erfahrungen, ihr Scheitern an ähnlichen Situationen und Problemen und ihre Umgangsweisen damit. Manchmal versuchen wir sogar für ganz konkrete Probleme gemeinsam konkrete Lösungen zu finden. Oft geht es aber bloß darum, von einem Problem zu berichten und zu merken, dass wir nicht alleine damit sind; dass es anderen auch so geht. So wird aussprechbar, was immer noch häufig tabuisiert bleibt: wie etwa die Einnahme von Psychopharmaka, Konflikte mit Ärzt_innen und Therapeut_innen, das Scheitern an alltäglichen Aufgaben, Unwohlsein und Unsicherheiten im Kontakt mit anderen Personen. Wir möchten einen Raum schaffen, in dem gerade schambesetzte Erlebnisse und Gefühle angesprochen werden können. Aus einer linken Perspektive ist das insbesondere auch das Nicht-Übereinstimmen von abstrakten politisch-moralischen Grundsätzen mit dem konkreten alltäglichen Erleben. Die Einsicht darin, dass wir etwa sexistische Schönheitsideale oder das kapitalistische Leistungsprinzip als unemanzipatorisch ablehnen, ändert noch lange nichts daran, dass unser (vermeintliches) Scheitern daran uns enorme psychische Probleme bereiten kann. Und auch dieser Widerspruch selbst kann schwer auszuhalten sein und wird dadurch potentiell tabuisiert. Häufig laufen die Prozesse innerhalb der Gruppe nicht ganz reibungslos. Zeitweise ist es schwierig, ein gemeinsames Thema oder den Anfang eines Gesprächs zu finden – was sich dann in einer mehr oder weniger ausgedehnten Episode des Schweigens äußert, bei dem so manche_r von uns unruhig wird. Das individuelle Bedürfnis, dieses Schweigen zu brechen, kollidiert dabei immer wieder mit dem Wunsch, noch über etwas nachzudenken, oder mit der Unsicherheit darüber, was wir denn eigentlich sagen möchten. Der Versuch, aufmerksam mit uns selbst und anderen umzugehen, resultierte für eine Weile in einer andächtig schweigsamen, geradezu sakralen Atmosphäre, die manche von uns als beruhigend und andere schlicht als unerträglich empfanden. Indem wir unsere Treffen an unterschiedliche Orte verlegten, mehr oder weniger methodische Varianten lockerer Moderation ausprobierten und uns insgesamt besser kennenlernten, hat sich diese Kirchenstimmung weitgehend aufgelöst. Das Schweigen begleitet uns aber weiterhin, und wir sind uns unserer Gefühle dazu nicht immer sicher. Bremst es uns in allzu hektischer Kommunikation? Oder sollten wir es lieber wegmoderieren?

Für die Reflexionstreffen haben wir bis jetzt weder einen regelmäßigen Turnus noch eine besondere Form festgelegt. Wichtig ist uns vor allem, bei diesen Treffen den nötigen Raum zu schaffen, um auf einer Metaebene über die Peer-Support-Treffen sprechen zu können, aber auch organisatorische Fragen zu klären, in theoretische Diskussionen einzusteigen und mögliche öffentliche Veranstaltungen oder öffentlichkeitswirksame Aktionen zu planen. Die beiden Formen von Treffen sind auch deshalb getrennt, damit beim Peer-Support-Treffen tatsächlich über persönliche Erfahrung gesprochen und nicht durch abstrakte politische Debatten davon abgelenkt wird.

 

Das Private ist nicht privat, sondern politisch

Auch uns stellte sich die Frage, ob wir schlicht eine weitere Selbsthilfegruppe sind. Was ist unser politischer Anspruch? Sorgen wir hauptsächlich dafür, dass Personen wieder klarkommen? Auch hier sind wir uns an vielen Stellen nicht ganz einig. Doch wir stellen fest, dass unsere Treffen eine andere Form haben – und eine bestimmte Wirkung, die unseres Erachtens politisch ist. Wir grenzen uns der Form nach von institutionalisierter Selbsthilfe schon dadurch ab, dass wir unsere Selbstorganisierung nicht nur als Methode begreifen, mithilfe derer es Personen individuell besser gehen kann, sondern auch als Ziel politisch-utopischer Praxis. Zudem bilden häufig die von Ärzt_innen und Therapeut_innen gestellten Diagnosen den Bezugspunkt für institutionalisierte Selbsthilfe. So gibt es etwa Selbsthilfegruppen für Depressionen, für Schizophrenie oder für diverse sogenannte Persönlichkeitsstörungen, jeweils sowohl für Betroffene als auch für deren Angehörige. Bei uns hingegen sollen Diagnosen in klinischem Sinne nach ICD 10 in erster Linie keine Rolle spielen. In vielen Fällen kennen wir solche Diagnosen der anderen nicht oder haben vielleicht sogar selbst gar keine. Unseren gemeinsamen Hauptbezugspunkt bildet eine – in diesem Kontext nicht explizit ausdiskutierte – Gesellschaftskritik, die anerkennt, dass es zwar individuelle Faktoren psychischer Probleme gibt, Krisen aber trotzdem durchdrungen sind von Herrschaft.

Indem wir die Erfahrung machen, mit unserem Erleben nicht allein da zu stehen, wird die gesellschaftliche und politische Dimension unserer Probleme sichtbarer. Zeitweise werden politische Implikationen explizit gemacht, indem ein Problem beispielsweise auf die geschlechtliche Arbeitsteilung oder den ökonomisch motivierten Leistungsdruck bezogen wird. Aber selbst wo die politische Kritik implizit bleibt, bietet unsere Gruppe ein Stück weit Schutz gegen die machtvolle Deutungshoheit psychologisch-psychiatrischer Therapieangebote: In jedem Fall durchbricht das Sprechen über eine Leiderfahrung die Isolation oder weitergehender: das, was wir weiter unten als Vereinzelung beschreiben. Das hat nicht nur Vorteile für das individuelle Wohlbefinden, sondern ermöglicht widerständiges Verhalten und damit eine politische Reflexion der eigenen Lebenssituation genauso wie eine politische Reaktion. Wir versuchen uns damit gegen pathologisierende Fremdzuschreibungen, die uns auf eine Diagnose reduzieren, zu wehren und individualisierenden, entsolidarisierenden Psychologisierungen zu widerstehen. Dabei begegnet uns beides nicht nur von medizinischer Seite, sondern an vielen Stellen im Alltag; sei es Arbeitsplatz, Uni, Freundeskreis oder Familie. Eine depressive Person etwa ist eben krank und damit ist es ein individuelles Problem, das medizinisch gelöst werden kann. Bedarf das Leiden der Person auf gesellschaftliche Strukturen zu beziehen und diese zu kritisieren besteht damit nicht mehr.

Widerständig ist es für uns hierbei schon, überhaupt über vermeintlich Privates zu sprechen und es in einen gesellschaftlichen und gesellschaftskritischen Kontext zu setzen. Gemeinsam können so Ideen entwickelt werden, um sich gegen den Druck von außen zu wehren und es kann sich gegenseitig geholfen werden, eine Situation als politische zu betrachten und zu verhandeln, anstatt dass Leid als individuell oder gar als eigene Schuld wahrzunehmen. Die Gruppe macht klar: »Ich bin nicht allein« – und das macht einen großen Unterschied. So verbinden wir mit unserer Praxis eine andere Form des Sich-in-Beziehung-Setzens, die wir weder aus anderen politischen Zusammenhängen noch aus therapeutischen Settings kennen. Die Solidarität, die wir in der Gruppe untereinander erfahren, ist nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern ein wichtiges Strukturierungsmerkmal einer befreiten Gesellschaft, wie wir sie uns vorstellen. Sie soll also nicht nur dazu beitragen, dass wir uns in die aktuelle Gesellschaft wieder einfinden, sondern weist auch über diese hinaus. Diesen utopischen Anspruch sehen wir bei institutionalisierter Selbsthilfe nicht. Sie funktioniert vielmehr gesellschaftsimmanent. Zwar gibt es auch dort Solidaritätserfahrungen. Das Ziel ist letzten Endes jedoch eine Wiedereingliederung in die durch Leistung und Konkurrenz strukturierte kapitalistisch-bürgerliche Gesellschaft. Umgekehrt sehen wir in politisch-emanzipatorischen Kontexten, in denen Solidarität als utopischer Anspruch durchaus vorhanden zu sein scheint, oft einen Mangel an konkreter, praktischer Solidarität. Psychische Krisen sind letztlich auch in der Linken meist tabuisiert.

Wichtig ist für uns, auch den Anspruch psychische Probleme fernab von Diagnosen und Pathologisierung zu thematisieren. Das bedeutet auch, dass wir uns eben nicht in die abstrakten Begrifflichkeiten flüchten, die uns der Psy-Komplex bietet, um psychisches Leiden zu beschreiben. Der Ausdruck »Ich befinde mich in einer depressiven Phase« scheint zwar zunächst allgemein verständlich, ist aber tatsächlich eine starke Abstraktion vom konkreten Empfinden einer Person und kann letztlich auch für jede_n etwas anderes bedeuten. Wir versuchen stattdessen bei uns und unseren Gefühlen zu bleiben: zu beschreiben, wo im Körper wir Verzweiflung empfinden; wie es ist, nichts zu fühlen; wie sich Trauer für uns konkret anfühlt. Schon damit dieses Sprechen über sehr intime Erfahrungen gelingen kann, braucht es ein solidarisches Miteinander, in dem versucht wird, gründlicher auf die eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer zu achten. So schaffen wir uns eine Art Schutzraum gegen den Zugriff der Gesellschaft, deren Mechanismen wir jedoch selbst verinnerlicht haben. Es geht bei unseren Treffen also nicht allein um die Linderung von Symptomen; es geht um diese Form des Sich-in-Beziehung-Setzens – als Selbstzweck und Utopie.

 

Solidarität als Praxis und Utopie

Nicht zuletzt die gegenwärtige Produktionsweise fordert in besonderer Weise einen Selbstbezug ein, der auch als unternehmerisch beschrieben werden kann. Zugleich erscheint es plausibel, die kapitalistische Ökonomie schlechthin als vereinzelnd zu beschreiben und zwar nicht nur in ihren Auswirkungen. Zur Konkretisierung sei eine Ungenauigkeit erlaubt: Wenn sich Menschen auf dem Arbeitsmarkt als Dinge – eben als beliebig austauschbare Waren – begegnen, werden sie vereinzelt, beziehen sich wesentlich durch Konkurrenz aufeinander. Diese Beziehungslosigkeit ist in der Strukturlogik des Kapitalismus angelegt; sie ist ihm notwendig, insofern er fundamental das in ihm zur Ware werdende in ein solches Verhältnis setzen muss. Denn zur Ware-Werden bedeutet ein Austauschverhältnis. Um beim Beispiel des Arbeitsmarktes zu bleiben: Es zählt nicht, was ein Mensch kann oder will, sondern letztlich welcher voraussichtliche Mehrwert vom Einsatz dieser Ware Arbeitskraft im Produktionsprozess erwartet wird. Innerhalb dieser Logik müssen wir uns und andere als bloße Mittel begreifen und verkaufen.

Solidarität könnte, von dieser groben ökonomischen Skizze ausgehend, dann eine Beziehung heißen, in der die Beziehung selbst zum Zweck wird und nicht mehr nur als Mittel zur Erreichung eines außerhalb der Beziehung liegenden, ökonomischen Zwecks. Befreite Gesellschaft bedeutete dann möglicherweise, dass die Bedürfnisbefriedigung durch solidarische Beziehungsweisen und innerhalb dieser stattfindet. Eine solche Verknüpfung von Solidarität und Beziehung findet sich in den Texten von Bini Adamczak. Solidarität ist für sie eine Beziehung, die zwar freundschaftlich, aber nicht unbedingt persönlich ist (Adamczak 2017: 270). Freundschaft kann verstanden werden als: für die anderen Gutes zu wollen und zwar um ihrer selbst willen. Solidarische Bezugnahme ist dann eine Beziehungsweise, in der zugleich die an dieser Beziehung Beteiligten jeweils als Zwecke vorkommen wie auch die Beziehung selbst. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt zurück zur Ökonomie: Wird Vereinzelung durch andere Formen der Bezugnahme aufeinander ersetzt, impliziert das zugleich entlang der oben skizzierten Linien eine Kritik der kapitalistischen Ökonomie.

Unsere oben beschriebene Praxis ließe sich als eine in diesem Sinne solidarische verstehen. Sie wäre dann politisch, insofern sie ein Moment praktischer Kapitalismuskritik impliziert. Sie kann helfen, sich selbst nicht als warenförmiges Ding zu erfahren und bietet zugleich mehr an, als nur Subjekt sein zu müssen. Denn die Einübung einer solidarischen Beziehung, die durch die Praxis hergestellt werden soll, schafft zugleich den Raum, andere Weisen des Subjektseins auszuprobieren. Damit ist unsere Praxis keine vorwegnehmende Antizipation einer kommenden Gesellschaft. Doch scheint die Möglichkeit der Transformation in ihr auf.

 

Psychische Krisen und Ohnmacht

Psychisches Leiden stellt eine Ohnmachtserfahrung dar, sind wir darin doch unseren Gefühlen und unserer Krise ausgeliefert. Grundlage der gemeinsamen Arbeit in unserem Projekt ist die Annahme, dass individuelles Leiden stets in Verbindung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen steht, in denen wir leben – und dass psychisches Leiden damit nicht zuletzt eine mögliche Ansatzstelle für Politisierung darstellt. Wir schreiben dies im Bewusstsein, dass ein solches Argument für die Überführung der Erfahrung psychischen Leidens in politisches Handeln leicht riskiert, einer eigenen Verwertungslogik zu folgen oder gar eine Art alternativer Verelendungsthese hervorzubringen. Selbstverständlich kann individuell erlebtes Leiden ohnehin nie gänzlich auf das Soziale reduziert werden. Es kann aber ebenso einer politischen Analyse zugeführt werden, wie es für andere Leiderfahrungen viel üblicher ist. Mobbing in der Schule oder Stress und Konkurrenzverhalten am Arbeitsplatz werden seltener tabuisiert und eher politisiert – jedenfalls sofern sie nicht in eine Diagnose übersetzt und damit aufs Neue individualisiert und damit einer Gesellschaftskritik enthoben werden.

Um psychisches Leiden auf ähnliche Weise zu thematisieren, bedarf es einer spezifischen Sprache, wobei aktuell hauptsächlich eine therapeutisch-diagnostische Sprache zur Verfügung zu stehen scheint. Diese Sprache verspricht einen Ausweg aus der Krise, nicht jedoch aus der Ohnmacht – denn jede Diagnose macht neuerlich ohnmächtig. Wer sich einer Diagnose entzieht und einfach faul ist, die_der versagt der Zuschreibung gemäß zwar moralisch, hat aber immerhin Handlungsmacht; wer der Diagnose nach depressiv ist, die_der versagt medizinisch und »kann nichts dafür«; und wer schließlich ausgebrannt ist, verhandelt gesellschaftliche Ansprüche und das Scheitern an diesen innerhalb einer Selbstbeschreibung statt im Konflikt mit der Gesellschaft. Eingedenk der Erfahrung, dass die Akzeptanz der eigenen Diagnose gleichzeitig eine neue Art des Selbstbezugs ermöglichen kann, die mit dem Erwartungsdruck bricht und die Grenze des Subjekts gegenüber den Anforderungen des Neoliberalismus aufzeigt, möchte unser Projekt in Erfahrung bringen, wie alternative Beschreibungen psychischer Krisen aussehen könnten, die unser Leiden weder entpolitisieren noch zum Widerstand per se stilisieren. Dazu gehört auch Kritik am individualisierten Heilsversprechen psychologisch-psychiatrischer Therapieangebote, da dieses dazu angedient ist, politische Utopien zu ersetzen. Solche Therapieangebote sollen uns aus der Krise führen und uns in funktionsfähige Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft zurückverwandeln. Damit individualisieren sie unsere Probleme und machen deren gesellschaftliche Dimension unkenntlich. Doch – und dies ist das Dilemma, in dem sich viele Menschen in Krisen befinden, – auch wer dieses Ziel der Wiedereingliederung für ein zweifelhaftes hält, bleibt oft auf ebenjene Angebote angewiesen: Schließlich müssen (und wollen) wir auf grundlegende Weise zurechtkommen – schon um, soweit möglich, nicht ganz schlecht zu leben, aber auch um politisch arbeiten zu können.

 

Teile der Initiative Keine Privatangelegenheit ['ka:pri:]

 

*.lit

Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revolution. Berlin.

The Icarus Project (2013): Friends Make the Best Medicine. URL: http://nycicarus.org/images/fmtbm.pdf [25.05.2018].

Rose, Nikolas (1979): The Psychological Complex: Mental Measurement and Social Administration. In: Ideology & Consciousness 5: 5–68.

 

*.notes