Zwangsmutterschaft – dieser Kampfbegriff aus der breiten Protestbewegung gegen den § 218 Strafgesetzbuch (StGB) in der Weimarer Zeit wird nicht selten zur Charakterisierung der nationalsozialistischen Frauenpolitik verwendet. Die These lautet: Der Nationalsozialismus habe alle Frauen zu Müttern machen wollen und deshalb den § 218 StGB verschärft. Doch abgesehen von der Wiedereinführung der §§ 219 und 220 blieb der § 218 bis 1943 unverändert bestehen, während 1935 – erstmalig in der deutschen Rechtsgeschichte – durch ein Gesetz die medizinische und die eugenische Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch eingeführt wurden. Trotz zahlreicher Anläufe und Debatten in der Weimarer Republik war eine umfassende Reform bis hin zur Abschaffung des § 218 wegen der Stimmenverhältnisse im Reichstag nicht durchsetzbar gewesen. Immerhin gab es 1926 eine Änderung des Strafmaßes: die Zuchthausstrafe wurde für die schwangere Frau durch eine kurze Gefängnisstrafe oder sogar Geldstrafe ersetzt. Für die Betroffenen war das natürlich ein erheblicher Unterschied. Außerdem erklärte das Reichsgericht 1927 den »künstlichen Abort« bei drohender Gefahr für Leben und Gesundheit der Mutter aus »übergesetzlichem Notstand« für straffrei. Damit war die medizinische Indikation de jure anerkannt, doch nicht auf Ärzt_innen festgelegt. Die gesetzliche Regelung blieb dem Nationalsozialismus vorbehalten.

Was auf den ersten Blick liberal erscheinen mag, ist es nicht. Der politisch völlig andere Stellenwert lässt sich anhand der Platzierung des Abtreibungsparagraphen in den Entwürfen für ein neues nationalsozialistisches Strafgesetzbuch verdeutlichen. Abtreibung rangierte dort nicht mehr wie im Strafgesetzbuch von 1871 unter »Verbrechen und Vergehen wider das Leben«, sondern stand im Abschnitt »Angriffe auf Rasse und Erbgut« zusammen mit Bestimmungen über »ärztlich gebotene Schwangerschaftsabbrechungen«. Mutterschaft war von ›Wert‹ allein in Hinblick auf Überindividuelles, ›Höheres‹: Volk, ›Rasse‹, Erbgut. Als ›erbgesund‹, gesund und ›rassisch unbedenklich‹ klassifizierte deutsche Frauen sollten, so hatten es Bevölkerungsstatistiker bereits in den Zwanzigerjahren ausgerechnet, mindestens vier Kinder zur ›Bestanderhaltung des Volkes‹ gebären. Doch seit der Jahrhundertwende sorgten immer mehr Frauen als Akteurinnen des sich sukzessive in fast allen sozialen Schichten durchsetzenden Geburtenrückgangs dafür, ihre Familien klein zu halten, nicht zuletzt durch Abtreibungen, wenn Verhütungsmethoden versagt hatten (vgl. Bergmann 1992; Grossmann 1995; Usborne 1994). Diejenigen, bei denen die ›Rationalisierung der Fortpflanzung‹ als Alltagspraxis (noch) nicht angekommen war, unterlagen hingegen dem Verdikt der genetischen ›Minderwertigkeit‹ und der Kritik an ihrer ›hemmungslosen Vermehrung‹. Ihre Nachkommenschaft wurde nicht nur von Eugenikern und Rassenhygienikern als ›Gefahr für den Volkskörper‹ angesehen, ebenso wie Geburten von als ›fremdrassisch‹ und ›fremdvölkisch‹ klassifizierten Frauen. Im Interesse der ›Aufartung‹ und ›Rassenreinheit‹ sollten sie möglichst verhindert werden (vgl. Bock 1986; Weingart, Kroll und Bayertz 1988; Kühl 2014). In diesem Zusammenhang wurde Abtreibung zu einem Mittel der nationalsozialistischen ›Rassen- und Bevölkerungspolitik‹: Abtreibungsverbot und Zwang zu Abtreibung und Sterilisation existierten nebeneinander. Die Leibesfrucht wurde in jede Richtung staatlich verfügbar.

 

WIEDEREINFUHRUNG DES §§ 219 UND 220 IN DAS STGB

Im Mai 1933, zwei Monate vor Erlass des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN), das die Zwangssterilisation in Deutschland durchsetzte, wurden mit der Wiedereinführung der §§ 219 und 220 in das Strafgesetzbuch erste Weichenstellungen in Sachen Abtreibung vorgenommen. Die neue Regierung verbot die Werbung für Abtreibungsmittel und das Anbieten von Abtreibungsdiensten, zum Beispiel durch Inserate. Auf diese Weise sollte eingearbeiteten ›Konsortien‹ von Ärzt_innen und Hebammen vor allem in Großstädten die auswärtige Kundschaft genommen und ihnen das Handwerk gelegt werden. Ausdrücklich ausgenommen vom Verbot waren das Anpreisen und Ankündigen von »Mitteln, Gegenständen oder Verfahren, die zu ärztlich gebotenen Unterbrechungen der Schwangerschaft dienen« an Ärzt_innen oder an »Personen, die mit solchen Mitteln erlaubterweise Handel treiben« – also Vertreterbesuche bei Ärzt_innen und Apotheker_innen – sowie Werbung in ärztlichen und pharmazeutischen Fachzeitschriften.

Diese Ergänzung des Strafrechts schrieb erstmals die rechtliche Unterscheidung zwischen straffreier »ärztlich gebotener Unterbrechung« und »Abtreibung« als krimineller Handlung fest – eine Bestimmung von »grundsätzlicher Bedeutung«, wie das Deutsche Ärzteblatt kommentierte, »denn der § 218 [mache] bekanntlich keinen Unterschied zwischen ärztlich gebotener und sonstiger Schwangerschaftsunterbrechung « (Deutsches Ärzteblatt 62 1933: 247f.).

 

MEDIZINISCHE INDIKATION

Die gesetzliche Zulassung der medizinischen Indikation 1935, die Teil des ersten Änderungsgesetzes zum GzVeN war, bedeutete für Frauen einen erschwerten Zugang zu einem legalen ärztlichen Abbruch auf eigenen Wunsch. Zusammen mit der gesetzlichen Regelung wurde ein bestimmtes Gutachterverfahren vorgeschrieben, nach dem künftig über jeden Schwangerschaftsabbruch aus gesundheitlichen Gründen entschieden werden sollte. Gegenüber der Weimarer Zeit bedeutete das neue Verfahren eine Einschränkung für Abtreibungen im privaten Ärzt_innen- Patient_innen-Verhältnis, eine Entmachtung der niedergelassenen Frauen- und Hausärzt_innen gegenüber den Kliniker_innen und eine Verwissenschaftlichung der Indikationsstellung sowie gleichzeitig eine umfassende Bürokratisierung. Hatte zuvor die medizinische Indikation bei freier Arztwahl aufgrund standespolitischer Vereinbarungen auf den Gutachten zweier Ärzt_innen beruht, die in ihrer Entscheidung nur an ihr professionelles Wissen gebunden waren und die nicht selten in den Krisenjahren der Weimarer Republik die gemischt medizinisch-soziale Indikation befürworteten, so wurde jetzt reichsweit ein System von Gutachterstellen für Schwangerschaftsunterbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen bei der Reichsärztekammer errichtet. Eine Gutachterstelle war jeweils für eine bestimmte Region zuständig, 182 an der Zahl. Bezirksstelle, Leiter und Stellvertreter wurden im Ärzteblatt bekannt gegeben. Unter den 365 namentlich genannten Leitern und Stellvertretern gab es keine einzige Ärztin (vgl. Deutsches Ärzteblatt 65 1935: 880-882). Die freie Arztwahl für Frauen fiel weg.

Das neue Verfahren erforderte einen erheblich größeren Aufwand an Bürokratie, Personen und Zeit. Im einfachsten Fall wurden vier bis fünf Wege für die Frau nötig, bis eine Entscheidung fiel. Neben dem_der antragstellenden (Haus-)Ärzt_in waren der Leiter der Gutachterstelle, zwei Gutachter und – bei unterschiedlichen Ergebnissen – ein Obergutachter in das Verfahren eingeschaltet. Wurde ein Obergutachten nötig, bedeutete dies zumeist einen Tag Klinikaufenthalt für die schwangere Frau mit umfangreichen Untersuchungen und Therapieversuchen, an deren Ende sie oft genug entlassen wurde mit dem Hinweis, sich für eine Haushaltshilfe oder eine Erholungskur an die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) zu wenden und bis zur Geburt unter ständiger ärztlicher Überwachung zu bleiben – ganz im Sinn der nationalsozialistischen sozialpolitischen Maßnahmen zur ›Abtreibungsvorbeugung‹ für ›erbgesunde‹ ›deutsche‹ Frauen. War ein Abbruch indiziert, musste er in einem Krankenhaus vorgenommen werden.  

Die Gutachter wurden vom Leiter der Gutachterstelle nach einem Turnus entsprechend ihres Fachgebiets ausgewählt und hatten ihren Entscheidungen die 1936 von der Reichsärztekammer herausgegebenen Richtlinien für Schwangerschaftsunterbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen zugrunde zu legen. Diese Richtlinien waren ein 180- seitiges Sammelwerk mit Beiträgen klinischer Spezialisten über den Zusammenhang bestimmter Krankheiten mit Schwangerschaft und Abort. Sie kamen aus folgenden Fachgebieten: Gynäkologie (2 Beiträge), darunter Schwangerschaftstoxikosen, Interne Medizin (4 Beiträge), darunter Herzkrankheiten und Lungentuberkulose, sowie je ein Beitrag aus Psychiatrie, Chirurgie, Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Augenheilkunde und Dermatologie, schließlich über »Die Unfruchtbarmachung der Frau aus medizinischen Gründen«. Die Autoren schränkten die Indikationen außerordentlich ein, vor allem für das Gebiet der Herz-, Lungenund psychiatrischen Erkrankungen, die während der Zwanzigerjahre die Hauptgründe für ärztlich durchgeführte Abbrüche abgegeben hatten. Anträge aus sozialer Indikation waren verboten. Als Motto war dem Buch ein Spruch Hitlers vorangestellt: »Der völkische Staat hat das Kind zum kostbarsten Gut eines Volkes zu erklären. Er muß sich als oberster Schirmherr dieses köstlichen Segens fühlen« (Stadler 1936: 5).

Die Zahl der offiziellen ärztlichen Abtreibungen aus gesundheitlichen Gründen sank in den folgenden Jahren dramatisch. Wurden für 1932, das letzte Jahr der Weimarer Republik, 34.612 Eingriffe gezählt, so waren es 1936 nur mehr 1.949. Zwischen Juli 1935 und Dezember 1940, also in fünfeinhalb Jahren, wurden von insgesamt 13.700 Anträgen knapp 30 Prozent abgelehnt und 9.700 genehmigt. Gynäkologen betrachteten diese Zahl als immer noch zu hoch und verlangten, das Verfahren den niedergelassenen Ärzt_innen zu entziehen und generell in die Klinik zu verlegen. Ein Abbruch aus medizinischer Indikation wurde praktisch nur noch durchgeführt, wenn die Frauen schwer krank waren. Bei ›infauster Prognose‹, das heißt, wenn der Tod mit oder ohne den Eingriff abzusehen war, wurde die Abtreibung verweigert. Der Wunsch der Schwangeren wurde nur in folgendem Fall respektiert: »[Sie] soll selbst entscheiden, ob sie sich zugunsten des werdenden gesunden Kindes der Gefahr für ihr Leben oder ihre Gesundheit aussetzen will« (Deutsches Ärzteblatt 65 1935: 756).

 

EUGENISCHE INDIKATION

Zusammen mit der medizinischen wurde die eugenische Abtreibungsindikation legalisiert. Vorangegangen war das Drängen und die illegale Praxis von Ärzten, zugleich mit den seit Frühjahr 1934 durchgeführten Zwangssterilisationen nach dem GzVeN auch einen Abbruch vorzunehmen, wenn die zu sterilisierende Frau schwanger war. »Solange nicht alle Erbkranken sterilisiert sind, wird der Sinn des Gesetzes, erbkranken Nachwuchs nicht zur Welt kommen zu lassen, nur erreicht, ›wenn man neben der Sterilisierung auch die Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenischen Gründen zuläßt«, teilte der Reichsärzteführer Dr. Gerhard Wagner in einem vertraulichen Rundschreiben den Ämtern für Volksgesundheit und Bezirksstellen der Kassenärztlichen Vereinigung mit; er forderte die Ärzte auf, die im Sterilisationsgesetz klaffende »Lücke« durch eugenische Abtreibungen zu schließen. Dafür sicherte er den Operateuren ohne Wissen der Justiz, aber mit Rückendeckung Hitlers, Straffreiheit zu (vgl. Bundesarchiv [BA], R 43II/720). In überlieferten Restakten finden sich Hinweise, dass diese Eingriffe auch praktiziert wurden, häufig erst gegen Ende der Schwangerschaft, im 7. oder gar 8. Monat. Einige führten zum Tod von Mutter und Fötus. In den Verhandlungen mit den beteiligten Ministerien über eine gesetzliche Regelung forcierte Wagner die Legalisierung der Zwangsabtreibung, auch bei »erbkrankem Erzeuger« und ohne eine zeitliche Beschränkung des Eingriffs. Er hielt Schwangerschaftsabbrüche mit Einwilligung der Frau »nicht für ausreichend «. Falls gegen die Einführung des Zwangs »zur Zeit« politische Bedenken bestünden, sollte von einer gesetzlichen Regelung überhaupt abgesehen werden, »damit die Ärzte unter stillschweigender Duldung der Behörden Schwangerschaftsunterbrechungen aus eugenischer Indikation vornehmen können«. Auch hierfür habe er die Zustimmung ›des Führers‹ gefunden.

Die Zulassung der eugenischen Indikation im Änderungsgesetz zum GzVeN im Juni 1935 beendete den Streit. Eugenische Abtreibungen waren nun ›legal‹, wenn ein Erbgesundheitsgericht die Sterilisation einer schwangeren Frau beschlossen hatte und der 6. Monat noch nicht überschritten war. Festzuhalten bleibt: Eugenische Abtreibungen nach dem GzVeN waren immer an die Zwangssterilisation der Patientin gebunden. Laut Gesetz war ihre Einwilligung zum Abbruch erforderlich. Doch dass die illegale Praxis gestoppt und der Wille der Frau von nun an respektiert wurde, ist nicht generell anzunehmen, zumal eine einmal gegebene Zustimmung nicht zurückgezogen werden konnte. Falls sie in der Klinik einen Aufschub erreichen konnte und die Sterilisation bis nach der Geburt zurückgestellt wurde, sollte der Amtsarzt möglichst für eine Entbindung im Krankenhaus sorgen, was zu dieser Zeit noch wenig üblich war. Die Sterilisation – so die Empfehlung des Königsberger Gynäkologen Felix v. Mikulicz-Radecki in einem Handbuch für Sterilisationsoperateure – solle möglichst direkt an die Geburt oder an das Ende des Wochenbetts anschließen, um »im Interesse des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« eine erneute »Flucht in die Schwangerschaft « zu verhindern (Mikulicz-Radecki, 1936: 149; vgl. Czarnowski 2001: 242).

Die Historikerin Gisela Bock schätzt die Zahl der eugenischen Abtreibungen zwischen 1934 und April 1945 auf etwa 30.000 bei einer Zahl von 400.000 Zwangssterilisationen an Männern und Frauen im ›Altreich‹ und den ›eingegliederten Gebieten‹ (Bock 1986: 388, 238).

 

≫RASSISCHE INDIKATION≪

Der Einbruch des § 218 in ›rassischer Hinsicht‹ begann von Seiten der ordentlichen Gerichte nach der Verkündung der Nürnberger Rassengesetze mit der Frage, ob Abtreibung bei jüdischen Frauen strafbar sei. So sprach das Schöffengericht Lüneburg 1938 eine jüdische Hausangestellte wegen versuchter Abtreibung frei. Das Rassenpolitische Amt der NSDAP kommentierte das Urteil zustimmend: »Der § 218 gilt nicht für Juden« (s. BA NSD 17/2-1938). Das Schwurgericht Hannover hingegen bestrafte 1939 zwei jüdische Frauen aus folgenden Gründen:

Die gänzlich freie und ungeregelte Zulassung der Abtreibung kann den in Deutschland lebenden Personen jüdischer Rassenzugehörigkeit, so unerwünscht der Nachwuchs vom völkischen Standpunkt aus sein mag, nicht zugestanden werden [...]. Es würde die unbeschränkte und gesetzlich ungeregelte Zulassung der Abtreibung bei jüdischen Frauen eine unabsehbare Gefahrenquelle für den deutschen Nachwuchs bedeuten [...]. Deutsche Frauen, bei denen der Wille zum Kind noch nicht genügend gestärkt sein könnte, würden allzu leicht den Weg zu [...] jüdischen Abtreibern finden, die durch die freie Ausübung ihres Gewerbes unter ihren Rassegenossen eine gewisse Fertigkeit sich aneignen würden.

Schließlich wies das Urteil auf »die Heimlichkeit, mit der Abtreibungen überhaupt vorgenommen werden« hin, was den Zugang nur erleichtere.

Im März 1940 war in einer Staatssekretär-Besprechung die »Frage der Zweckmäßigkeit der Schwangerschaftsunterbrechung bei Jüdinnen auf eigenen Wunsch« Thema. Die Aktennotiz hält fest, »daß diese Frage noch zurückgestellt werden soll, bis die Entwicklung des Judenproblems im Altreich genauer übersehen werden kann« (BA, R 18/3806).

Nur ein halbes Jahr später wurden alle ›Indikationen‹, die seit 1934/35 diskutiert worden waren, unter bestimmten Bedingungen zugelassen. Grundlage war ein Geheimerlass des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti, der seit 1939/40 die ›Gesundheitsführung‹ von Partei und Staat auf sich vereinigte. Nach dem Hinweis über die »erschöpfende« Regelung des Schwangerschaftsabbruchs aus gesundheitlichen Gründen und des Abbruchs aus »erbpflegerischen Gründen, soweit die Schwangere selbst erbkrank im Sinne des GzVeN ist«, heißt es weiter:

Gesetzlich nicht geregelt sind bisher die Fälle, in denen mit unerwünschtem Nachwuchs zu rechnen ist, sei es, daß nicht die Mutter, sondern der Erzeuger der Frucht erbkrank ist oder daß bei nicht erbkranken Eltern auf Grund bereits erfolgter Geburten kranker Kinder mit größter Wahrscheinlichkeit angenommen werden kann, daß die Geburt weiterer Kinder unerwünscht ist, oder daß schließlich die Mutter an einem im GzVeN nicht aufgeführten Erbleiden leidet. Eine gesetzliche Regelung steht weiterhin noch in den Fällen aus, in denen eine Schwangerschaftsunterbrechung auf Grund ethischer (Notzuchtsfälle usw.) und aus rassischen Gründen geboten erscheint. Aufgrund einer besonderen Ermächtigung besteht die Möglichkeit, in dringenden, begründeten, bisher gesetzlich nicht geregelten Fällen gleichfalls eine entsprechende Regelung herbeizuführen. (BA, Sammlung Schumacher)

Die Entscheidung für oder gegen einen solchen Eingriff traf – auf dem Dienstweg über das Reichsministerium des Innern – der Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung anlagebedingter und schwerer Leiden, das Gremium, welches über die Ermordung behinderter und jüdischer Kinder und Jugendlicher im Rahmen der sog. ›Kindereuthanasie‹ seine Urteile fällte. Diese Schwangerschaftsabbrüche und Sterilisationen außerhalb des GzVeN erfolgten auf Antrag von Ärztekammerleitern und Amtsärzten und wurden nur mit Einzelurkunden erlaubt oder verboten. Ein allgemeines Recht sollte nicht daraus abgeleitet werden können. Ganz unterschiedlich gelagerte Fälle, darunter auch einige von Betroffenen selbst gewünschte Eingriffe, sind in Resten überliefert:

  • wenn ›erscheinungsbildlich‹ gesunde Eltern, deren Kinder genetische Störungen aufwiesen, bei erneuter Schwangerschaft der Frau ein weiteres krankes Kind befürchteten; 
  • wenn der zu erwartende ›minderwertige‹ Nachwuchs nicht der schwangeren Frau (selbst ›erbgesund‹ und ›rassisch‹ einwandfrei), sondern dem ›erbkranken‹ oder ›fremdrassischen‹ ›Erzeuger‹ oder ›Verbrecher‹ zuzurechnen war;  
  • nach einer Vergewaltigung (nur nach Einleitung eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens);  
  • für Prostituierte, die aus staatsmedizinischer Sicht nicht gebären sollten, aber ein Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht ausschied, weil keine der Diagnosen des GzVeN zutraf;  
  • für aus der ›Volksgemeinschaft‹ auszusondernde ›Mischlinge‹ jeder Art und jeden ›Grades‹, definiert nach dem Blutschutzgesetz und Folgeerlassen (Juden, ›Neger‹, ›Zigeuner‹, Chinesen);  
  • einige Anträge jüdischer Frauen sind überliefert, die aus Verzweiflung wegen der zunehmenden Verschlechterung ihrer Lage um Erlaubnis zum Schwangerschaftsabbruch baten;  
  • Abtreibung an schwangeren Zwangsarbeiterinnen vor 1943.

Die Zahl dieser Eingriffe im Vergleich zu denen nach dem GzVeN war klein.

 

DIE VERFOLGUNG ›KRIMINELLER ABTREIBUNGEN‹ ODER: DIE MELDEPFLICHT FUR FEHLGEBURTEN UND DIE REICHSZENTRALE ZUR BEKAMPFUNG DER HOMOSEXUALITAT UND ABTREIBUNG

Die Verfolgung eigenmächtig vorgenommener Abtreibungen geschah zum einen über den Versuch einer möglichst vollständigen Buchführung über schwangere Frauen, die vorzeitig geboren hatten, bei den Gesundheitsämtern, zum anderen über die Intensivierung polizeilicher Ermittlungen. Zusammen mit der Legalisierung der medizinischen und der eugenischen Indikation wurde 1935 die Meldepflicht für Schwangerschaftsunterbrechung, Fehlgeburt und Frühgeburt eingeführt, und 1936 die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung im Reichskriminalpolizeiamt eingerichtet (vgl. Grau 1993: 139ff.). Die Meldepflicht sollte dem Staat, neben den eng umgrenzten medizinischen und den eugenischen Schwangerschaftsabbrüchen, einen Überblick über das Ausmaß ›unzeitiger Geburten‹ verschaffen, stellte also eine Art Fruchtbarkeitskataster dar, und außerdem das Instrumentarium zur Bekämpfung privater ärztlicher und vor allem nichtärztlicher Abtreibungen erweitern. Wenn auch die Mehrzahl aller illegalen Abtreibungen von Nichtärzt_innen eingeleitet wurde, so begaben sich doch viele Frauen bei starken Blutungen, während oder nach dem Abgang der Frucht in die Behandlung eine_r Ärzt_in oder einer Hebamme – wie auch bei natürlichen Fehlgeburten. Dies war der Ansatzpunkt für die Meldepflicht.

Auf einem reichsweit einheitlichen Formblatt sollte jeder Abbruch einer Schwangerschaft, jeder vorzeitige Abgang der Frucht und jede Frühgeburt bis zur 32. Schwangerschaftswoche innerhalb von drei Tagen beim zuständigen Gesundheitsamt angezeigt werden. Zur Meldung verpflichtet waren der_die von der Frau zur Hilfe gerufene Ärzt_in oder die Hebamme und jede andere zur Hilfe herbeigerufene Person, ausgenommen Familienmitglieder und Haushaltsangehörige. Zu melden waren: Name, Anschrift, Kinderzahl und Familienstand der Frau, Alter, Länge und Geschlecht der Frucht, Ort des Abgangs, Ursache der Fehlgeburt sowie Hinweise auf mögliche illegale Manipulationen. Die Amtsärzte sammelten die Anzeigen und reichten die statistischen Angaben weiter. Auf diese Weise wurde zum Beispiel eine hohe Zahl von Fehlgeburten während des Krieges bekannt.

Aber nicht nur der statistische Überblick über diese sehr privaten körperlichen Angelegenheiten war Ziel dieser Maßnahme. Wichtig war außerdem die Auswertung der Meldebögen durch die Amtsärzte für ihren Bezirk. »Streng vertraulich« arbeiteten sie mit der Kriminalpolizei zusammen, um illegalen Abtreibungen auf die Spur zu kommen. Die Berliner Reichszentrale schickte neun auf Abtreibung spezialisierte Gestapo-Sonderkommandos aus, um die örtlichen Kriminalpolizeistellen bei ihren Ermittlungen zu unterstützen. Außerdem richtete sie eine zentrale Lohnabtreiber- Kartei ein, die aus den Meldungen örtlicher Polizeibehörden und Staatsanwaltschaften gespeist wurde. Bis 1940 – in nur vier Jahren – enthielt diese Kartei bereits 8000 Namen.

Eine beachtliche Steigerung der Anklagen wegen Abtreibung vor den Gerichten seit 1936/37 geht auf diese intensive Form des Ausleuchtens der abtreibungsaffinen Subkulturen zurück. Aufschlussreich hinsichtlich der Ausschöpfung des mit der Meldepflicht verbundenen Verfolgungspotentials ist, dass zum Beispiel in Hamburg die Aufdeckung der vermuteten › kriminellen‹ Aborte an ihre Kapazitätsgrenze stieß: Längst nicht alle angezeigten Frauen konnten verhört und untersucht werden. Diese Nachforschungen wurden in Hamburg mit Kriegsbeginn eingestellt, anderswo systematisch fortgeführt. In Nürnberg zum Beispiel ging die Kriminalpolizei 1941 den Fehlgeburtsmeldungen von 1938 nach. In Düsseldorf wurden auf Basis der gemeldeten Fehlgeburten 110 Abtreiber_innen wegen 688 Abtreibungsfällen verurteilt. Unter ihnen waren acht Ärzte, sieben Hebammen und sieben Heilpraktiker. Generell wurde die Mehrzahl der Abtreibungen nicht von Ärzt_innen, sondern von Hebammen, Heilpraktiker_innen, Masseur_innen, »weisen Frauen«, Kurpfuscher_innen und anderen Laienabtreiber_innen vorgenommen (vgl. Usborne 2007). In der Weimarer Republik wird die Zahl der ›kriminellen‹ Abtreibungen insgesamt auf 600.000 bis eine Million geschätzt; während des Nationalsozialismus auf 200.000 bis 600.000. Auch die Reichsstatistik der Fehlgeburten stützte sich auf die Auswertung gemeldeter Einzelfälle im ganzen Land. Medizinal-Statistiker lobten die neue bevölkerungsstatistische Qualität des gigantischen Unternehmens als ein Meisterwerk deutscher Organisation. Sie waren nun nicht mehr auf Schätzungen durch Extrapolationen von Krankenkassen-, Krankenanstalten-, und Kindbettfieberstatistiken oder Fehlgeburtsstatistiken einzelner Städte angewiesen, sondern konnten auf Basis der gemeldeten Einzelfälle eine verlässlichere Statistik aufmachen als je zuvor: In den ersten drei Jahren meldeten die Gesundheitsämter um die 200.000 Fälle pro Jahr.

Trotz aller gesundheitsamtlicher, polizeilicher und gerichtlicher Bemühungen war und blieb es schwierig, ›kriminelle‹ Abtreibungen im Nachhinein nachzuweisen, vor allem dann, wenn die Eingriffe sorgfältig und schonend ausgeführt worden waren. Das galt sogar für die offenbar zunehmende Zahl der Selbstabtreibungen. Für Amtsärzte, Gynäkologen und Gerichtsmediziner war klar: »Es gibt kein sicheres Zeichen, das den Verlauf des kriminellen Aborts vom Spontanabort unterscheidet «; und: »Nicht alle fieberhaften Aborte sind kriminell und längst nicht alle kriminellen Aborte sind fieberhaft« (Philipp 1940: 247). Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden staatlicherseits die Hausärzte kritisiert, dass sie ihrer Meldepflicht nicht genügend und zu oberflächlich nachkämen, hätten sie doch das beste Wissen über die Frauen und ihr familiales und soziales Umfeld.

 

DIE § 218-›REFORM‹ 1943

Wie bereits ausgeführt, wurde der § 218 Strafgesetzbuch erst im Jahr 1943 geändert und damit mitten im Zweiten Weltkrieg, den das Deutsche Reich als ›Rassenkrieg‹ führte. Zu dieser Zeit befanden sich circa elf Millionen Zwangsarbeiter_innen im Großdeutschen Reich, die meisten verschleppt aus Polen, der Ukraine und Russland. Im besetzten Polen und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion war die Ghettoisierung der polnischen, baltischen und russischen Jüdinnen und Juden weitgehend abgeschlossen, wie auch die Deportation der deutschen und westeuropäischen Jüdinnen und Juden. Ab 1942 wurden die Ghettos sukzessive aufgelöst durch Abschiebung ihrer Bewohner_innen in die Todeslager und ihre Ermordung. Im Großdeutschen Reich fällten zivile Gerichte (zumeist die neu geschaffenen Sondergerichte) Tausende von Todesurteilen.

Die nationalsozialistische ›Reform‹ des Abtreibungsrechts durch die Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft brachte eine drastische Strafverschärfung und die Aufhebung der Bestrafung zugleich, je nachdem, wer die Abtreibung vornahm und bei welcher schwangeren Frau. Einerseits wurde die 1926 vom Weimarer Parlament abgeschaffte Zuchthausstrafe als Regelstrafe für Dritte wieder eingeführt, »in besonders schweren Fällen« auch für die Frau, die Abtreibungen an sich hatte vornehmen lassen. Auf gewerbsmäßige und Mehrfachabtreibungen (mindestens drei) an deutschen Frauen stand nun die Todesstrafe, wenn »der Täter fortgesetzt die Lebenskraft des deutschen Volkes beeinträchtigt« hatte. Andererseits sollten die Paragraphen auf »Straftaten gegen Personen, die nicht deutsche Staatsangehörige deutscher Volkszugehörigkeit sind, keine Anwendung finden«. Polnische und tschechische Frauen und ihre Helfer_ innen, die in dem Großdeutschen Reich einverleibten Teilen Polens und im Protektorat Böhmen und Mähren abtrieben, fielen nicht unter die Strafverfolgung deutscher Gerichte – vorausgesetzt, sie hatten keine »Breitenwirkung « auf vorhandene ›volksdeutsche‹ Frauen. Von der Strafverfolgung ausgenommen waren ebenso Abtreibungen an Ausländerinnen im Reichsgebiet durch Deutsche.

25 Todesurteile wegen Abtreibung zwischen 1942 und 1945 sind bisher bekannt, sowohl im ›Altreich‹ wie auch in den ›eingegliederten Gebieten‹; mindestens 19 davon wurden vollstreckt (vgl. Czarnowski 1999: 248ff.).

 

ABTREIBUNG AN ›OSTARBEITERINNEN‹

Nur wenige Tage nach der Änderung des Abtreibungsparagraphen gab der Reichsgesundheitsführer einen Erlass über »Schwangerschaftsunterbrechung bei Ostarbeiterinnen « »zum internen Gebrauch« heraus, der im Juni 1943 auf Polinnen ausgeweitet wurde. Waren bis Ende 1942 schwangere Zwangsarbeiterinnen in ihre Herkunftsländer abgeschoben worden, so organisierte die Gesundheitsverwaltung nun in Kooperation mit der Himmler-Behörde Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums und der Reichsärztekammer Schwangerschaftsabbrüche in großem Maßstab. Eine Rückkehr der ›Ostarbeiterinnen‹ und Polinnen in die Heimat wurde ausgeschlossen. Dem Gebot, möglichst zahlreich an ihnen abzutreiben, lag neben der vollen Ausnützung ihrer Arbeitskraft die »Vorbeugung volkstumspolitischer Gefahren« zugrunde, die, mit der Geburt ›fremdvölkischer‹ Kinder, befürchtet wurde. Auch diese Abbrüche unterlagen der organisierten Selektion. Die Kontrolle über die Abbrüche bei ›Ostarbeiterinnen‹ und Polinnen oblag den Gutachterstellen für Schwangerschaftsunterbrechung und Unfruchtbarmachung aus gesundheitlichen Gründen der Ärztekammern, denselben Institutionen, die auch für die Entscheidung medizinisch indizierter Eingriffe bei deutschen ›erbgesunden‹ Frauen zuständig waren. Während sie bei letzteren im Sinne der Geburtenförderung äußerst restriktiv entschieden, wurden die Anträge auf Abbruch der Schwangerschaft bei ›Ostarbeiterinnen‹ und Polinnen in der Regel ›genehmigt‹, es sei denn, ein »germanischer Erzeuger« war im Spiel oder – sofern es sich um Polinnen handelte – der Gutachter beurteilte die Schwangere als ›gutrassisch‹. Dann wurde die Frau zur ›Rassenprüfung‹ durch einen ›Eignungsprüfer‹ des SS-Rassen- und Siedlungshauptamts ins Gesundheitsamt vorgeladen und die Abtreibung möglicherweise verboten, um das Kind dem ›deutschen Volkskörper‹ einzuverleiben. So etwas kam selten vor. Formal war die ›Einwilligung‹ der Frauen zum Abbruch nötig, der ihnen aus sozialen Gründen schmackhaft gemacht werden sollte. Die Erwähnung ›rassischer‹ Gründe war strikt verboten. Die Frauen wurden zur Unterschrift gedrängt, genötigt oder gezwungen, und wenn es nicht – wie häufig – durch den Arbeitgeber, die Chefsekretärin, den Lagerleiter, das Arbeitsamt, die Polizei oder den Amtsarzt geschah, so durch die Not der Lebensumstände. Orte der Abtreibung waren Krankenreviere in Zwangsarbeiter_innenlagern großer Firmen, Durchgangslager der Arbeitsämter, ›Ostarbeiterbaracken‹ von Krankenhäusern, Arztpraxen und Universitätsfrauenkliniken (vgl. Czarnowski 2008: 53ff.; Schwarze 1997).

In der Landwirtschaft, bei individueller Unterbringung auf dem Hof, war das Schicksal der schwangeren Zwangsarbeiterinnen stark von der jeweiligen Einstellung der Bauern abhängig. Neben erzwungenen Abtreibungen kam es auch vor, dass Bäuerinnen das Kind ›ihrer‹ polnischen Arbeiterin als Patin zur Taufe trugen, wie Forschungen aus Niederösterreich zeigen; ähnliche Einzelfälle sind auch aus Westfalen bekannt (vgl. Hornung-Ichikawa, Langthaler und Schweitzer 2004; Schwarze 1997). Um solche Entwicklungen, vor allem das gemeinsame Aufwachsen von ausländischen und deutschen Kindern, zu unterbinden, forderte Himmler die Einrichtung von »Ausländerkinder-Pflegestätten «. De facto waren die meisten dieser primitiven Säuglings- und Kleinkinderlager »Tötungsstätten « (Reiter 1993; Schwarze 1997). Es gab Ausnahmen »›widersetzlicher‹ Menschlichkeit« (Schwarze 1997: 10) gegen das Sterbenlassen der Kinder – zu wenige, um diese mörderische Praxis zu stoppen.

 

SCHWANGERSCHAFT ALS VERBRECHEN

Im besetzten Polen gehörten schwangere jüdische Frauen, Mütter und Kinder mit zu den ersten, die aus den Ghettos in die Tötungszentren deportiert wurden. Nach der Ankunft im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau wurden sie sofort ermordet und nicht der Zwangsarbeit zugeteilt. Abtreibungen konnten das Leben schwangerer Häftlinge retten (vgl. Pearl 1993: 104ff.). Wurde dennoch ein Kind geboren, erwartete Mutter und Neugeborenes dasselbe tödliche Schicksal. Neue Forschungen über Jewish Medical Resistance in the Holocaust zeigen dasselbe Vorgehen der deutschen Besatzung in den Ghettos in Litauen, dem Reichskommissariat Ostland: Ab Frühjahr 1942 waren Schwangerschaften und Geburten jüdischer Frauen verboten und als »Verbrechen« mit dem Tod von Mutter und Kind bedroht. Das Gebärverbot wurde zu einem Element des Genozids. Neben heimlichen Geburten unter schwierigsten Verhältnissen führten Ärzte in den Ghetto-Spitälern Schwangerschaftsabbrüche zur Rettung des Lebens der Mutter durch (vgl. Beinfeld 2014; Brauns 2014; Offer 2014; Sedlis 2014). Auch im Warschauer Ghetto fanden aus diesen Gründen Abtreibungen statt (vgl. Roland 2014: 74).

 

SCHLUSS

Die Konzeption von Abtreibung als kriminelle Tat war zwischen 1933 und 1945 in Deutschland tief in der nationalsozialistischen Bevölkerungs- und Rassenpolitik verwurzelt und kann nicht ohne diese beurteilt werden. Auf der einen Seite wurde ›kriminelle Abtreibung‹ als ›Angriff auf Rasse und Erbgut‹ bestraft, bis hin zu Todesurteilen und Hinrichtungen Dritter für Abtreibungen an ›gesunden‹ ›erbgesunden‹ deutschen Frauen. Von der ›deutschen Frau‹ erwartete der Staat, jede einmal eingetretene Schwangerschaft auch auszutragen, abgesehen von der stark eingeschränkten Zulassung des Abbruchs aus gesundheitlichen Gründen. Auf der anderen Seite – entsprechend derselben Logik des ›Schutzes‹ und der ›Pflege‹ von ›Rasse und Erbgut‹ – existierten zahlreiche Formen direkten und indirekten Zwangs zur Abtreibung und Sterilisation gegenüber Frauen, die aus eugenischen und ›rassischen‹ Gründen nicht gebären sollten, bis hin zu den Massenabtreibungen an Zwangsarbeiterinnen und der Verfolgung von Schwangerschaften und Geburten als Verbrechen in den Ghettos.

Es blieb zwar dem Nationalsozialismus vorbehalten, Indikationen, das heißt strafrechtliche Ausnahmebestimmungen für Abtreibung der Leibesfrucht in der deutschen Geschichte zu legalisieren. Doch der nun erlaubte Schwangerschaftsabbruch hatte mit dem Wunsch und Wollen der individuellen Frau wenig bis gar nichts zu tun, sondern stand im Dienst ›höherer Ziele‹ und unterlag externen Urteilen. Die Entscheidung für oder gegen einen Abbruch beruhte auf medizinischen Befunden, professionellen Gutachten, erbbiologischen Ermittlungen und Resultaten der ›Rassenprüfung‹, ohne Respektierung der schwangeren Frau als Person.

Der Nationalsozialismus löste die traditionelle Verbindung zwischen Abtreibung, Kriminalität und (weiblichem) Geschlecht auf. Er versuchte mit weitreichenden und drakonischen Mitteln, verborgene private wie soziale Formen der ›alten‹ Abtreibungskulturen zu zerstören – bei gleichzeitiger Entkriminalisierung des Abbruchs der Schwangerschaft für bestimmte Indikationen. Weil aber diese Abbrüche unabhängig vom Wunsch der schwangeren Frau durchgeführt wurden und auch gegen ihren Willen, hörte die Abtreibung auf, ein ›weibliches Verbrechen‹ zu sein – es wurde zu einem Verbrechen des Staates gegen Frauen.

 

Gabriele Czarnowski

 

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