Es ist Juli und eine zweiwöchige Studienreise in Polen steht an, umgeben von Nachkriegsbauten und unendlich vielen Kirchen, Plastikflaschen mit dem Logo »Produkt Polski« und dem immer wiederkehrenden polnischen »Wir«, das wie ein Echo durch so viele Gespräche hallt. Was ich ebenfalls in dieser Zeit kennenlerne: Die Oral-History-Forschung in Polen. In Oral-History-Archiven lagern Bestände aus Interviews, deren Sammlung mit dem Ende des Kommunismus begonnen hat und die die Stimmen von Zeitzeug_innen des letzten Jahrhunderts festhalten. Den polnischen Patriotismus glaube ich auch hier zu sehen. Kann es sein, dass der Museumsboom der 2010er Jahre und die Instrumentalisierung nationaler Erinnerungskultur unter der regierenden Partei »Prawo i Sprawiedliwość (PiS)« nicht spurlos an der Oral-History-Forschung vorbeigehen? Es war insbesondere das Projekt »100 100-latków na 100-lecie«, das mir nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte.

Altersgenossen der Unabhängigkeit

Zum Jubiläum der polnischen Unabhängigkeit führte das Wrocławer Forschungszentrum »Erinnerung und Zukunft« das Oral-History-Projekt »100 100-latków na 100-lecie« (Übers.: »100 100-Jährige zum 100-Jährigen«) durch. Im Zuge dessen erinnern sich Polen_Polinnen an ihr Leben und an den Beginn des unabhängigen polnischen Staates 1918. Das wissenschaftliche Projekt wurde schließlich als »Rówieśnicy Niepodległej« (Übers.: »Altersgenossen der Unabhängigkeit«) ausgestellt und als Buch veröffentlicht. Die Online-Ausstellung lässt sich noch heute besuchen und bietet intensive Einblicke in das polnische Leben des 20. Jahrhunderts. Die Ausstellung machte mich aber nicht wegen des patriotischen Untertons in ausgewählten Zitaten und Erzählungen stutzig. Vielmehr stieß ein anderer Besucher der Studienreise, Maciej, den unbequemen Gedanken bei mir an: Wenn Forschende heutzutage fragen, sind dann auf einmal alle Helden der Geschichte?

Maciej Zawistowski, damals Mitarbeiter des Projekts, sagt, die Ausstellung, wie auch das Buch »Rówieśnicy Niepodległej«, stellten die Ergebnisse der Oral-History-Forschung populärwissenschaftlich dar, wodurch sie dazu tendieren, weit verbreitete patriotische Meinungen zu reproduzieren. Aber auf die Erhebungen selbst hätten gesellschaftlich dominante Geschichtsinterpretationen keinen Einfl uss gehabt. Kann die Oral-History-Forschung in einem Land mit einer so präsenten Erinnerungskultur denn unabhängig davon arbeiten? Und wem möchte diese Forschung eigentlich Gehör verschaffen?

Der Chor der »Gewöhnlichen«

Oral History ist eine wissenschaftliche Interviewmethode, die gegenwärtig in der Geschichtswissenschaft, Kulturanthropologie und Soziologie großen Anklang findet. In diesem Format werden individuelle Lebensgeschichten gesammelt. Dabei steht am Anfang eine Erzählaufforderung und die interviewte Person soll vorerst nicht unterbrochen werden. Anschließend besteht die Möglichkeit für Nachfragen, im Kontext polnischer Oral History oft nach einschlägigen politischen Ereignissen oder bestimmten Zeiträumen. Da in der Oral-History-Methode weniger Wert auf objektiven Wahrheitsgehalt als auf subjektive Erfahrungen gelegt wird, bedarf es gründlicher Kontextualisierung. Doch bei der Masse an Interviewmaterial können Archive oft nicht einmal zugehörige Transkriptionen erarbeiten. In den Archiven werden Ton- und Videomaterial, Feldnotizen der Forschenden, sowie von Zeitzeug_innen gestiftete Fotografien und Dokumente gelagert.

Seit drei Jahrzehnten wachsen Oral-History-Archive im postsozialistischen Raum stetig. Einige davon fi ndet man auch in Polen, unter anderem das »Haus der Begegnungen mit Geschichte« in Warschau oder das Zentrum »Erinnerung und Zukunft« in Wrocław. Im Gegensatz zur Elitenforschung, aus der sich beispielsweise die Oral History im westlichen Raum entwickelt hat, legt Oral History im postsozialistischen Raum, und besonders in Polen, einen Schwerpunkt auf Geschichten »von unten«. Dabei soll besonders Stimmen Raum gegeben werden, deren Erfahrungen in der bisherigen Geschichtsschreibung unzureichend berücksichtigt wurden, beispielsweise weil es über sie wenig Archivmaterial anderer Art gibt oder zu diesen Gruppen kaum geforscht wurde. Ersteres trifft unter anderem auf die früher analphabetische Landbevölkerung, insbesondere die Bauern, zu, Letzteres etwa auf die Frauengeschichte. So hat das Warschauer Institut auf Grundlage von Oral-History-Interviews über Erfahrungen weiblicher Gefangener im Nationalsozialismus und Stalinismus publiziert. Durch polnische Archive sowie universitäre Forschungsstellen wurden bereits tausende Interviews dieser Art durchgeführt.

Die Oral-History-Methode erhielt durch die Arbeit des KARTA-Kollektivs in den 1980er Jahren Einzug in die polnische Wissenschaft. Als die Jaruzelski-Regierung von 1981 bis 1983 das Kriegsrecht in Polen verhängte, um die Demokratiebewegung und die freie Gewerkschaft Solidarność zu zerschlagen, gründete KARTA eine anti-autoritäre Untergrundzeitschrift und Ende der 1980er führte das Kollektiv erste Interviews mit polnischen Oppositionellen. Auch heute wird Oral History in Polen oft dafür verwendet, ehemaligen oppositionellen Stimmen Raum zu geben, wobei es angesichts der Ereignisse des letzten Jahrhunderts kaum verwundert, dass hauptsächlich politische Geschichte aufgearbeitet wird. Mit diesem konkreten Ziel der Methode ergeben sich aber auch heikle Aspekte, die nicht außer Acht gelassen werden sollten.

Probleme der Oral History

Als offensichtliches Problem des Projekts »Rówieśnicy Niepodległej« nennen Ewa Maj, Leiterin des Projekts, und Maciej Zawistowski die Schwierigkeit, Zeitzeug_innen zu finden. Aufgrund des hohen Alters und gesundheitlicher Einschränkungen wurde das gesuchte Geburtsjahr der Teilnehmer_ innen in ihrem Projekt schließlich von 1918 auf 1923 erhöht. Beim Betrachten der Ausstellung fällt mir jedoch auf, dass das Problem, adäquate Zeitzeug_ innen zu finden, weitaus größer ist. Die Geschichte zum Jubiläum der polnischen Unabhängigkeit wird von Zeitzeug_innen erzählt, die alle, soweit nachvollziehbar, ethnisch Polen_Polinnen sind – auf heutigem polnischen Gebiet geboren oder dorthin zurückgezogen. Wer heute für den festgelegten Zeitraum Erzähler_innen in Polen sucht, mag fündig werden, wird allerdings relevante Stimmen im Projekt vermissen – und zwar die Stimmen derer, die nicht mehr in Polen sind. Beispielsweise war Wrocław, wo das projekt leitende Institut sitzt, bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs nicht polnisch. Dieses Gebiet ist geprägt von Siedlungsbewegungen und einer diversen Bevölkerungsgeschichte, die auch Deutsche, sowjetische Soldaten, Ukrainer_innen und Juden_ Jüdinnen umfasste. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Polen ein multiethnischer Staat und nur knapp über 60 Prozent der Bevölkerung waren Katholik_innen. Heute hat es eine der ethnisch und religiös homogensten Bevölkerungen der Welt. Der Mangel an Diversität biographischer Hintergründe im Projekt, der wahrscheinlich auch in den Oral-History-Archiven festzustellen ist, unterstützt das Bild einer einheitlichen polnischen Geschichte und verhindert auch eine kritischere Betrachtung derselbigen.

Es gibt einen Grund, weshalb Patriotismus in Polen großgeschrieben wird. Nach den Teilungen und Besetzungen polnischer Gebiete kam es erst 1918 zur Etablierung eines unabhängigen polnischen Staates. Polen führte Grenzkriege mit seinen Nachbarn, wurde zu einem entscheidenden Austragungsort des Zweiten Weltkriegs, Schauplatz des Holocausts, und unter Stalin Teil des Ostblocks. Nach jahrelangem zivilgesellschaftlichem Widerstand erreichte es als eines der ersten Länder des Ostblocks das Ende des Kommunismus. Nationalismus bedeutet in Polen etwas anderes als in Deutschland - und das ist auch gut so. Dennoch stellt sich die Frage, wie ein solcher Patriotismus oder Nationalismus heutzutage genutzt wird.

Im Zuge einer kritischen Auseinandersetzung mit Oral History sollte immer bedacht werden, wer bereit ist, seine Geschichte zu erzählen und wie sie erzählt wird. Beim Betrachten der Ausstellung frage ich mich: Wie kommt es, dass es hier so wirkt, als ob zum Jubiläum des polnischen Staates alle für die Unabhängigkeit Polens kämpften, obwohl die zu Zeiten des Kommunismus regierende »Polnische Vereinigte Arbeiterpartei« zu ihren Hochzeiten über drei Millionen Mitglieder besaß – fast zehn Prozent der damaligen Bevölkerung. Zeitzeug_innen erzählen Geschichte nicht neutral, sondern zu einem Zeitpunkt, wo sie sich schon bestimmte Geschichtsinterpretationen angeeignet haben, und in Polen sind viele, die alternative Geschichte erzählen würden, nicht mehr da. Außerdem ist es einfacher, Interviews mit Leidtragenden eines Systems zu führen, als mit Funktionsträger_innen eines solchen. Daher sollte es nicht überraschen, dass sich die Oral-History- Archive mit Geschichten über die düstere Zeit des Kommunismus und Widerstände im Zweiten Weltkrieg gut füllen, insbesondere wenn aktiv nach diesen Geschichten gesucht wird. Weshalb ist »Altersgenossen der Unabhängigkeit« nun mehr als nur eine Ausstellung zum Jubiläum der polnischen Unabhängigkeit?

Politisierung der Erinnerungskultur und Oral History in Museen

»›Altersgenossen der Unabhängigkeit‹ ist ein Titel, der auf natürliche Weise die Absicht vermittelt, einhundert biografische Berichte von Personen zu erfassen, die 1923 und früher geboren wurden«, so Maj. Das mag stimmen, doch es wird problematisch, wenn mit hundert Interviews das Bild eines homogenen Volkes gezeichnet und ein einheitliches Geschichtsnarrativ verbreitet wird. Beides unterstützt eine patriotische Interpretation der nationalen Identität Polens, die von der »PiS«-Partei seit Jahren stark politisiert wird.

Das stärkste Motiv der polnischen Erinnerungskultur ist das von Polen als Opfer europäischer Politik und Märtyrer Europas sowie als Kämpfer für seine Unabhängigkeit. Die Soziologin Geneviève Zubrzycki zeigt die stetige Reproduktion und politische Instrumentalisierung dieses Narrativs beispielhaft an der Debatte um Auschwitz als polnischen und jüdischen Gedenkort.1 Heutzutage sieht man die Instrumentalisierung eines solchen Geschichtsnarrativs häufig in der Rhetorik sowie Politik der »PiS«-Partei, etwa in der Diskussion über das Holocaust-Gesetz von 2018, das Aussagen unter Strafe stellt, die der polnischen Nation oder seinem Volk eine Mitschuld am Holocaust geben, oder der Forderung des polnischen Bildungsministers, nur Polen_Polinnen sollten Führungen in Auschwitz anbieten. Polen hat eine gewaltvolle Geschichte hinter sich, die einer ordentlichen Aufarbeitung bedarf und Berichte von Zeitzeug_innen tragen viel dazu bei. Doch Oral-History-Archive, die nur gefüllt sind mit den Geschichten von Polen_Polinnen, die unter dem Totalitarismus der Deutschen und der Kommunist_innen gelitten haben, spiegeln eine spezifi sche Erzählweise der Geschichte.

Nach Aleida Assmann sind Archive kulturelle Gedächtnisse, die Macht erhalten und legitimieren oder das Potenzial eines Machtumsturzes beherbergen.2 Das lässt sich am heutigen Kampf der Museen in Polen für ihre politische Unabhängigkeit beobachten, die durch die Kulturpolitik der »PiS« stark eingeschränkt wird. Direktionen wurden umbesetzt und Ausstellungen aufgrund politischer Wünsche verändert, wie es beim Danziger Weltkriegsmuseum beobachtet werden konnte. Das Wrocławer Zentrum »Erinnerung und Zukunft« und andere Institute seiner Art unterstehen direkt dem von der »PiS« geführten Ministerium für Kultur und nationales Erbe. Allein die Bezeichnung des Ministeriums lässt mich stirnrunzelnd zurück. Im Wahlprogramm der »PiS« wird ausführlich beschrieben, dass Museen und Forschungsinstitute zur Etablierung einer starken polnischen Identität beitragen sollen. Das zeigt, wie wichtig in ihren Augen Erinnerungskultur für politische Machterhaltung ist. Nun unterstützt die Oral-History-Forschung nicht nur die Aufrechterhaltung dieses Geschichtsnarrativs, sondern wird selbst davon beeinfl usst, etwa wenn Forschende gesellschaftlich dominante Perspektiven unrefl ektiert in ihrer Arbeit reproduzieren. Lassen nicht Suggestivfragen wie »Was hat im Kommunismus gefehlt?« aus dem Projekt »Rówieśnicy Niepodległej« schon auf eine voreingenommene Geschichtsinterpretation schließen?

Wer heute die Ausstellung »Wrocław 1945-2016« des Historischen Zentrums »Zajezdnia« besucht, in dem auch »Rówieśnicy Niepodległej« ausgestellt wurde, kann Oral History außerhalb der akademischen Forschung erleben. Im Kontext des Zweiten Weltkriegs können Aufnahmen von acht Zeitzeug_innen angehört werden, die von Deportationen oder ihrer Rückkehr nach Polen berichten. Unter ihnen keine Juden_Jüdinnen, auch keine Vertriebenen oder andere Minderheiten. Dafür ein Pole, der von seiner Entscheidung aus Frankreich zurückzukehren erzählt: »[Sie sagten:] Kommt zurück nach Polen, denn Polen baut sich wieder auf. Und dafür braucht man Hände zum Anpacken.«

 

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ASSMANN, ALEIDA (2018): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 1. Auflage. München: C.H. Beck.

ZUBRZYCKI, GENEVIÈVE (2011): History and the National Sensorium: Making Sense of Polish Mythology. Qualitative Sociology 34 (1).