Alle zwei Jahre tagt die International Walter Benjamin Society (IWBS), um aktuelle Fragen der Forschung zu diskutieren. Als sie sich im Dezember letzten Jahres in Frankfurt und Mannheim zusammenfand, galt es den »Anspruch Benjamins, Geschichte anders zu denken, erneut zu überprüfen« , also im Sinne einer Versuchsanordnung neue Formen der Historiographie zu erörtern. Doch stehen gegenwärtig die Überlieferungen Benjamins ebenso im Begriff, überwältigt zu werden. Welchen Anteil daran die Forschungen über sein Werk haben war auf der Tagung Gegenstand der Aufarbeitung wie Verdrängung gleichermaßen. Die nächste Konferenz findet 2015 in Jerusalem statt, das Thema steht noch aus.

Herausfordernd steht der hagere Mann am Pult. Seine Gesten und die Dringlichkeit seiner Worte künden von einem Kampf, der längst verloren scheint. Als sich vergangenen Dezember die IWBS über die Aktualität benjaminscher Kritik verständigen wollte, war ihm das Scheitern ihres Unterfangens sicherlich bereits bekannt. So nimmt es nicht Wunder, dass Irving Wohlfarth einleitend seine KollegXinnen als das beschimpft, was sie letztlich sind: Die heute Resigniertesten, welche Adorno damals Resignation vorwarfen. Die »Geistlosigkeit«, welche den Kongress fortan kennzeichnen sollte, ist Ausdruck einer »Benjaminliebigkeit«, die nach Belieben mit seinem Denken verfährt. Das lückenlose Memorieren und Wiedergeben von Briefwechseln geht Hand in Hand mit der »leeren, homogenen, mit Kurzreferaten vollgestopften Zeit« der Konferenz; beide verweisen auf die Selbstliebe eines Bildungsbürgertums, welches im Werke des Kritikers allenfalls die Aufforderung zu innerakademischer Ausschlachtung erkennt. Und so beweisen sich die selbsternannten ErbXinnen Benjamins, was deren Forschungen seit Jahrzehnten prägt: Profilierung durch philologischen Feinsinn, der Plädoyers für Buntstifte vorträgt, des Kritikers findiges »Wissensmanagement« rühmt oder in seinem Denken das Jüdische ausmerzen will. Als Intellektueller war Walter Benjamin ohnehin seit jeher der bessere Europäer, der posthum als Säulenheiliger der Völkerverständigung gepriesen wird. So zumindest Burkhardt Lindner, Herausgeber des Benjamin-Handbuchs, der damit mehr über sein eigenes Verständnis Europas als über den Kritiker selbst aussagt. Als Jude hingegen, daran lassen solcherlei Bekenntnisse keinen Zweifel, tauge er allenfalls noch zu Irritation und Unbehagen; und sein Gerede über den Messias weise ihn letztlich als den hässlichen Zwerg aus, der »sich ohnehin nicht darf blicken lassen«. Doch steht mit dem Verhältnis zu Theologie und Materialismus einiges auf dem Spiel, denn »nur als Bündnispartner können [sie] eine Partie sichern, in der es um nichts weniger geht als um das Überleben beider – um das Überleben schlechthin«.

In einer Zeit, die das Ende der Geschichte entweder anerkennt oder beharrlich leugnet, deutet die gegenwärtige Absenz von Glück auf die Leerstelle einer projektiven Zukunft hin. Möge sie selbst unbestimmt bleiben, so sei in ihr zumindest der Ort zu bestimmen, in welchem Begierden zur Reife geraten, die über das Bestehende hinausweisen. Doch scheint auf diesen Begierden derzeit ein Bannfluch zu liegen, welcher sie aus ihrem Hort der Erfüllung vertreibt. Dies weist das Imago der Zukunft als eines aus, für welches die Vergangenheit zur bloßen Historie wurde, die in Büchern les- und in Archiven studierbar, deren Bedeutung für die Gegenwart jedoch getilgt ist. Zugleich scheint ein Ende der Geschichte – als Katastrophengeschichte – noch nicht in Sicht. Es gilt ehedem, was für Benjamin seinerzeit galt: das Fortschreiten der Heilsversprechen an die Massen fällt mit der Katastrophe aller in eins.

Anteil an dieser Katastrophe haben ebenso die zahllosen Benjaminforschungen, deren Detailstudien nebensächlicher Irrelevanz sie als Blindgänger ausweisen. Denn Textexegese ist nicht nur beliebt, sondern geboten. Den wahren Benjamin darin zu erkennen, reklamiert ein jeder für sich. Während sich die Benjaminforschung also einig ist in ihrer »Fachidiotie«, muss ihr die Notwendigkeit einer Aktualisierung seiner Kritik unbegreiflich bleiben. Und so verstummte auch das Lachen, das den Pointen Wohlfarths eingangs folgte, als dieser mit seiner Polemik gegen die IWBS ernst machte. »Das schlechte Neue ist alles, was wir haben«, resümiert das Enfant terrible und bestimmt damit den Ort, von welchem eine Kritik der Gesellschaft heute ihren Ausgang nehmen muss. Sie sei die »pünktliche, punktuelle, flüchtige Verabredung zwischen zwei bestimmten Epochen«. Dass Kritik dabei, dem Engel der Geschichte gleich, mit dem Rücken zur Zukunft steht, gestattet es ihr einzig, sie erneut zu fassen.

 

Sebastian Sternthal

 

*.notes